Sancha ... : Das Tor der Myrrhe : Historischer Roman (German Edition)
Zeitlang in ihrer Kemenate auf und ab. War sie in Zaragoza zu einem jener unseligen Schellenbälle geworden, die sich Pedro und Marie seit Jahren zuwarfen? Ein Spiel, das inzwischen das ganze Castillo spaltete und aus dem leicht blutiger Ernst werden konnte? Sancha beneidete ihre sanftmütige und auf Ausgleich bedachte Schwester nicht, die derzeit gezwungen war, zwischen dem Königspaar zu vermitteln.
Doch was hatte Leonoras Aufforderung zu bedeuten, dass sie, Sancha, ihrem Gemahl „gewogen“ bleiben solle? Drei Ausrufezeichen! Bestimmt dachte sie an ein Kind. Und damit hatte sie recht: Die Zeit der Fruchtbarkeit einer Frau war kurz. Sancha verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als sie ihren flachen Leib betastete. Auch Leonora war kinderlos geblieben. Lag es vielleicht doch am Reiten, wie Zibelda immer behauptete? Leonora und sie saßen seit ihrer Kindheit sicher im Sattel, und sie ritten noch heute gerne in Beinkleidern, geschlitzten Röcken und Stiefeln zur Jagd oder eben über Land. Sollte sie für einige Zeit ausschließlich die Sänfte benutzen? Nun, die Worte der Schwester konnten aber auch bedeuten, dass sie tatsächlich von ihrer geheimen Liebschaft wusste. Miraval hatte so etwas angedeutet. Sanchas Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Nun, diese Affäre war offenbar vorüber. Vielleicht sah sie ihn sogar niemals wieder. Deutlicher war indes Leonoras weitere Warnung gewesen: Kein Streit wegen Hagelstein!
„Zum Teufel!“ Sancha holte aus und fegte mit der Hand Leonoras Brief vom Pult. Sie alle kannten Hagelstein nicht wirklich!
Sie war elf Jahre alt gewesen, dürr, hässlich, eigenwillig und stets darauf bedacht, dem verhassten Hofkaplan, der sie Latein lehrte, zu entwischen. Eingehüllt in einen alten Kapuzenumhang, der für gewöhnlich in der Gesindekammer hing, strich sie mit dem erregenden Gefühl von Freiheit im Bauch durch die Gänge, Höfe und Gärten des Castillos und bildete sich ein, dass niemand sie erkannte. Es war, als suchte sie draußen, was sie im Schloss nicht fand: Das richtige Leben. Doch was machte ein richtiges Leben aus? Das fragte sich Sancha noch immer.
Beim Waffen- und Rothschmied, mit dem sie sich oft unterhielt, hatte sie es nicht gefunden, auch nicht bei Meister Ibrahim, dem maurischen Steinmetzen. Es war der Runde Turm, der sie anzog wie angeblich der Bernstein den Staub, denn es handelte sich um die Richtstätte und das Gefängnis in einem. Schon von weitem konnte man die Schreie der Gefangenen hören. Die Hände in die Hüften gestützt und den Kopf weit in den Nacken gelegt, starrte sie wie gebannt hinauf, wo vom Knie des alten Galgens die Schlinge baumelte. Bedauerlicherweise hing dort nie jemand. Manchmal saß allerdings die weißgraue Eule auf dem Galgen, die sonst unter dem Dach hauste. Sancha mochte die Eule. Sie hielt Zwiesprache mit ihr.
An einem dieser Ausflüge hatte sich Sancha dem Aufseher des Turms zu erkennen gegeben und ihm befohlen, sie durch das „Angstloch“ sehen zu lassen. Das Loch war mit schweren Eisenstäben vergittert gewesen und die Gefangenen in der Tiefe hatten unflätige Flüche gebrüllt, mit ihren Ketten gerasselt und ihr mit der Faust gedroht. Erschüttert, auch wegen des Gestanks, war Sancha aus dem Turm geflohen und hatte sich draußen in den Schatten gesetzt, den Rücken an einen alten Schuppen gelehnt. Doch der Versuch, die Gesichter, die sie im Kopf hatte, den Schreien zuzuordnen misslang. Plötzlich vernahm sie hinter sich ein Geräusch. Als sie aufsprang, wäre ihr fast die Bank, eine wacklige Bohle, auf die Fersen gefallen. Befand sich in der Hütte eine Katze mit Jungen? Neugierig spähte sie durch ein Astloch. Ein helles blaues Auge starrte in ihr braunes! Mit einem Aufschrei fuhr sie zurück. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. War einer der Todgeweihten aus dem Loch ausgebrochen und hatte sich hier versteckt?
Sancha wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sie die Wachen gerufen hätte. „Wer bist du?“, fragte sie neugierig, nachdem sie einen weiteren Blick riskierte.
„Hagelstein mag mein Name sein“, gab ihr eine spöttische, aber wohlklingende Stimme zur Antwort.
„Aglstein? Aglstein? Merkwürdiger Name. Ich nenne dich Blauauge. Lebst du oder versteckst du dich hier, Blauauge?“
Sie hörte einen tiefen Seufzer. „Es gibt etliche, die durchziehen das Land gleich wie eine Laus ein` alten Belz, junge Dame, allein Ehr` und Herrlichkeit dadurch zu erlangen, dass ...“
Sancha konnte nicht anders, sie musste lachen.
Weitere Kostenlose Bücher