Sanctus
Stein. Er warf die Schlinge darüber, lehnte sich zurück, zog sie fest und prüfte ihren Halt.
Sie hielt.
Er steckte sein langes blondes Haar hinter die Ohren und warf einen letzten Blick auf den pulsierenden Lichtteppich unter ihm. Dann, das Herz schwer von dem uralten Geheimnis, das er nun mit sich trug, atmete er so tief ein, wie seine Lunge es ihm gestattete, zwängte sich durch den Spalt und sprang in die Nacht hinaus.
K APITEL 2
Neun Stockwerke weiter unten, in einem Raum, der so prachtvoll war wie der andere kahl, wusch sich ein anderer Mann das Blut von seinen eigenen, frischen Wunden.
Wie im Gebet kniete er vor einem riesigen Kamin. Sein langes Haar und der Bart waren vom Alter silbern und oben auf dem Kopf dünn, was ihm schon von Natur aus ein mönchisches Aussehen verlieh. Auch er trug wie der Gefangene eine grüne Soutane.
Sein Körper zeigte zwar die ersten Spuren des Alters, war aber trotzdem noch fest und drahtig. Gut trainierte Muskeln bewegten sich unter seiner Haut, als er das Tuch methodisch in die Kupferschüssel neben sich tunkte, das kalte Wasser abtropfen ließ und schließlich die Wunden damit abtupfte. Jedes Mal drückte er das Tuch ein paar Augenblicke lang auf die Wunden; dann wiederholte er das Ritual.
Als die Schnitte an seinem Hals, seinen Armen und an seinem Rumpf zu heilen begonnen hatten, trocknete er sie mit frischen Handtüchern ab und stand auf. Sorgfältig zog er seine Kapuze wieder über den Kopf. Dabei spendete ihm das Brennen der Wunden unter dem groben Stoff seltsamerweise sogar Trost. Er schloss die blassgrauen Augen und atmete tief durch. Unmittelbar nach der Zeremonie hatte er schon immer ein Gefühl absoluter Ruhe, Entspanntheit und Befriedigung empfunden, denn er war es, der die größte Tradition seines Ordens am Leben hielt. Er versuchte, dieses Gefühl so lange wie möglich zu genießen, bevor er wieder in den Alltag seines Amtes zurückkehren musste.
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
»Herein.« Er griff nach dem Strick, der ihm als Gürtel diente.
Die Tür öffnete sich, und das Licht des Kaminfeuers spiegelte sich auf dem reich verzierten und mit Gold beschlagenen Holz. Stumm schlüpfte ein Mönch in den Raum und schloss die Tür hinter sich wieder. Auch er trug eine grüne Soutane und Haar und Bart lang, wie es in ihrem alten Orden üblich war.
»Vater Abt ...« Der Mönch sprach leise, fast verschwörerisch. »Bitte, verzeih mein Eindringen zu dieser späten Stunde, aber ich dachte, du solltest es sofort erfahren.«
Er senkte den Blick, als wisse er nicht, wie er fortfahren solle.
»Dann sag es mir auch sofort «, knurrte der Abt, band sich den Gürtel und steckte sein Kruzifix hinein, ein hölzernes Kreuz in Form des Buchstaben ›T‹.
»Wir haben Bruder Samuel verloren ...«
Der Abt erstarrte.
»Was meinst du mit ›verloren‹? Ist er tot?«
»Nein, Vater Abt. Ich meine ... Er ist nicht in seiner Zelle.«
Der Abt packte sein Kruzifix, bis sich das Holz in sein Fleisch bohrte. Dann, als Logik seine Angst stillte, entspannte er sich wieder.
»Dann ist er wohl gesprungen«, sagte er. »Lass das Gelände absuchen und die Leiche bergen, bevor sie entdeckt werden kann.«
In der Erwartung, der Mönch würde augenblicklich hinauseilen, drehte er sich um und zog seine Soutane zurecht.
»Verzeih mir, Vater Abt«, fuhr der Mönch jedoch fort und starrte weiterhin zu Boden, »aber wir haben bereits gründlich gesucht. Wir haben Bruder Athanasius im selben Moment informiert, als wir Samuels Fehlen bemerkt haben. Er hat Kontakt nach draußen hergestellt und an den Fundamenten eine Suche in die Wege geleitet. Eine Leiche ist nirgends zu sehen.«
Die Ruhe, die der Abt noch vor wenigen Minuten genossen hatte, löste sich nun endgültig auf.
Früher in dieser Nacht war Bruder Samuel bei den Sancti aufgenommen worden, dem inneren Kreis ihres Ordens, eine Bruderschaft, die so geheim war, dass nur jene, die tatsächlich im Berg lebten, überhaupt von ihrer Existenz wussten. Der Initiationsritus war auf traditionelle Art durchgeführt worden, und schließlich hatte man den Anwärter in das uralte Sakrament eingeführt, das heilige Geheimnis, das zu beschützen und zu bewahren ihr Orden gegründet worden war. Während der Zeremonie war jedoch offensichtlich geworden, dass Bruder Samuel diesem Wissen nicht gewachsen war. Das war nicht das erste Mal, dass ein Mönch im Augenblick der Erleuchtung versagt hatte. Das Geheimnis, das
Weitere Kostenlose Bücher