0884 - Sklaven der Hölle
Sinje-Li beruhigte sich erst wieder, als der Schmerz des Erinnerns langsam in ihr zusammenfiel. Dann wandte sie sich der leblos in einer Ecke der Hütte liegenden Gestalt zu - es war eine junge Frau, deren Hände und Füße in groben Ketten gefesselt waren; schwere Eisenanker, tief in den felsigen Boden getrieben, sorgten dafür, dass die Metallfesseln der Frau nur einen winzigen Aktionsradius gönnten.
Den nutzte sie nicht einmal aus, denn sie war in Lethargie verfallen - ihr Geist hatte kapituliert, ein für alle Mal aufgegeben. Keine Hoffnung…
Sinje-Li trat nahe zu ihr heran, riss ihr brutal den Kopf nach oben. »Hast du das gehört? Familie hat er gesagt. Familie! Und? Fühlst du dich auch wohl und heimisch in dieser herrlichen Familie?«
Bei dem letzten Wort schlug sie ihrer Gefangenen hart mit dem Handrücken ins Gesicht. Wenn sie auf einen Schmerzensschrei gehofft hatte, wurde sie bitter enttäuscht. Da war nichts mehr, was geschrien werden konnte.
Sinje-Li stampfte wütend mit dem Fuß auf, ließ von der nackten Frau ab, die wieder gänzlich in sich zusammensackte.
Sie hielten nichts aus, diese erbärmlichen Menschen … Sie selbst war einmal eine von ihnen gewesen.
Sinje-Li dachte an all die Dinge, die sie ausgehalten hatte. Aushalten musste! Manchmal wäre es ihr lieber gewesen, sie hätte diese eine ganz bestimmte Nacht nicht überlebt. Damals hatte es begonnen. In dieser Nacht war der Hass in Sinje-Li erblüht, ein Hass, den sie danach nie wieder unter Kontrolle bekommen hatte. Verzeihen, Nachgeben, sich besinnen - alles Dinge, die damals ein für alle Mal in ihr verkümmert waren.
Sinje-Li gab sich einen Ruck. Vergangenheit. Schluss damit. Es war so wie es eben war. Sie warf einen Blick zu der Frau, die sich in ihre eigene Welt geflüchtet hatte. Alles um sie herum schien für sie nicht existent - ein Schutz, das war Sinje-Li klar. In den ersten Tagen hatte Sinje-Li sich beherrschen müssen, sich nicht am Blut ihrer Gefangenen zu laben, doch das war vorbei. Sinje-Li hatte sich unter Kontrolle.
Sie konnte warten. Warten, bis Artimus van Zant hier erschien, um seine Geliebte zu befreien. Er sollte mit ansehen, wie Sinje-Li Rola DiBurn zu einem Vampir machte. Van Zant hatte sich Sinje-Li zur Feindin gemacht. Zweimal hatte er sie besiegt, sie daran gehindert, ihre Aufgaben zu erledigen - ihre Befehle. Rache… seit dieser einen Nacht, die so weit in der Vergangenheit lag, war dies das einzige Gefühl, das Sinje-Li für sich akzeptierte. Mehr noch - sie sog es in sich auf, forcierte es, jagte es zu den höchsten Höhen auf.
Von draußen drang Lärm in die Hütte, die Sinje-Li zugeteilt worden war. Der Markt begann. Ein Markt, wie es ihn ganz sicher nur hier in den Schwefelklüften so geben konnte. Sinje-Li hörte die dröhnenden, polternden Stimmen von Amazonen. Sie zählten hier zu den besten Kundinnen, denn sie hatten einen enormen Verschleiß an lebendem Material. Das waren ihre eigenen Worte, denn ihre Sklaven hielten sie in weitaus schlimmeren Verhältnissen als ihre Tiere. Lange überlebte niemand die Fron bei einem Amazonenstamm, und die meisten mochten ihren Tod sogar herbeisehnen.
Aber es gab durchaus andere Mitglieder der Schwarzen Familie, die sich bei dem Warenangebot auf diesem und anderen Märkten eindeckten; selbst Stygia, die Fürstin, schickte ihre Bediensteten aus, um sich immer wieder einmal umzuschauen.
Der Clan, zu dem Sinje-Li zählte, beherrschte diesen Sklavenmarkt - ihr Clansherr war Zoltan-Yorick, ein uralter Vampir, dessen genaue Herkunft niemand kannte. Seine Herrschaft über den Clan war unerbittlich, seine Anordnungen Gesetz, dessen Bruch das Auslöschen der eigenen Existenz nach sich zog. Ohne Ausnahme. Yorick kannte für seinen Clan - letztlich also für sich - nur das eine Ziel: Mehrung des Besitzes, des Ansehens in der Hierarchie… Zunahme der Macht! Dafür nahm Yorick alles in Kauf. Und er benutzte die Mitglieder seines Clans rücksichtslos dazu, seine Pläne umzusetzen.
Sinje-Li hatte das schmerzlich erfahren müssen. Hundert Mal… Tausend Mal.
Die Vampirin war an den Marktlärm gewöhnt, doch heute zerrte er an ihren Nerven. Die Geduld, die Sinje-Li einmal ausgezeichnet hatte, schien wie weggeblasen. Lag das an der erneuten Niederlage, die sie in diesem Kinderheim hatte hinnehmen müssen? Sie hatte van Zant Seelenqualen bereiten wollen, er sollte an den Rand dos Wahnsinns getrieben werden, wenn er, der dieses Kinderhaus gegründet hatte, dort nur noch
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