Santiago, Santiago
Vorwort
Das Abräumen des Schreibtisches an meinem alten Arbeitsplatz hat mir keine Schwierigkeiten bereitet, auch nicht das Verpacken der Bücher und Papiere. Eher schon das Abhängen des Bildes hinter dem Schreibtisch. Plötzlich sah der Raum sehr kahl aus.
Ein neuer Lebensabschnitt. Werde ich mich sofort in das nächste Unternehmen stürzen? Oder endlich einmal alles Liegengebliebene erledigen, vollständig und gründlich? Weder, noch. Die neuen Unternehmungen können warten, ich will erst einmal Atem schöpfen. Die Pendenzen? Während ich sie erledige, kommen schon wieder die nächsten dazu. Das Problem ist unlösbar, diesmal muß die Welt warten.
So haben Verena und ich beschlossen, eine gute Woche nach meinem letzten Arbeitstag das ganz Andere zu tun: drei Monate zu Fuß durch Europa zu wandern, auf dem historischen Jakobsweg, nach Santiago de Compostela in Nordwestspanien, omnia nostra nobiscum portantes. Wir wollten alles Nötige mit uns tragen und uns selbst beweisen, daß dies im Grunde der Dinge wenig sei.
Warum auf dem Jakobsweg? Unser erstes Interesse für diesen mittelalterlichen Pilgerweg war ein durchaus oberflächlich-touristisches. Wir sind fast zufällig auf ihn gestoßen, bei Anlaß einer Ferienreise durch Nordspanien und beim Nachlesen im »Guide Michelin«. Dann ist mir bewußt geworden, daß bei meinen Vorfahren der Älteste fast immer Jakob hieß: der Name des Apostels, dessen Reste in der Kathedrale von Santiago (Sant Iago) liegen sollen. Er war einer der beliebtesten Heiligen beim Volke des Mittelalters, und die Pilgerfahrt zu ihm eine der großen drei. Die beiden anderen Zielpunkte waren Rom und Jerusalem.
Bei unserer Entscheidung schwang wohl auch ein Stück Zeitgeist mit. Alles redet vom Mittelalter, alle haben den Roman »Der Name der Rose« gelesen, und die Bildbände über die Romanik sind Legion. Wir sind der Geschichte der hohen Kulturen und der hohen Geister alle etwas müde, wenden uns lieber dem einfachen Volk des Mittelalters und seinem Alltag zu, möchten wissen, wie es gelebt und geliebt, gearbeitet und gebetet hat. Die Mehrzahl der Jakobspilger waren einfache Menschen. Indem wir ihre Reise nachvollziehen würden, so fühlten wir unbestimmt, würden wir uns in ihre Reihe stellen, sie vielleicht ein wenig besser verstehen.
»Sie«? Uns selber, denn wir alle tragen noch heute einen mittelalterlichen Menschen in uns, zusammen mit dem Renaissance- und dem Barockmenschen, dem Aufklärer und dem Positivisten. Unsere Reise war also auch ein Stück Suche nach der eigenen Vergangenheit, der geistigen und der materiellen.
Schließlich gab es ganz praktische Gründe, den Jakobsweg zu wählen. In Frankreich und in Spanien ist er nationaler Wanderweg, bezeichnet und in Wanderführern beschrieben (siehe die Antwort auf die 2. Frage im Epilog, S. 248). Das hat unser Unternehmen vereinfacht. Es blieben dann immer noch einige Probleme zu lösen, wie man im folgenden lesen wird.
Wenn Verena und ich heute auf die drei Monate unserer Fußreise zurückblicken, so empfinden wir sie als die glücklichsten unseres Lebens. Ich hoffe, daß der Leser dieses Berichtes etwas von diesem Glück mitempfindet.
Vielleicht möchte er es sogar selbst versuchen. Darum habe ich ziemlich viele konkrete Hinweise in die Beschreibung unserer sechzig Reiseetappen eingeschmuggelt, manchmal wohl fast mehr, als es die Regeln der Poetik ertragen. Ich hoffe, daß mich die Kollegen und Kolleginnen vom Fach daran nicht aufhängen werden. Und weil ich dem interessierten Leser dann doch nicht allzuviel Suchen und Zusammentragen zumuten wollte, habe ich am Schluße des Büchleins noch dreizehn meist praktische Fragen von Lesern und Zuhörern meines Berichtes wiedergegeben und zwölf davon auch beantwortet...
Eine Bemerkung zu den Abbildungen dieses Buches ist nötig. Es gibt zahlreiche Bildbände über die Kunstdenkmäler am Jakobsweg. Mit ihnen konnte und wollte ich nicht konkurrieren. So habe ich mich auf die Bilder vom Wege beschränkt. Gutes Photographieren braucht Zeit und Kraft — und schönes Wetter. Immer wieder hat das eine oder andere gefehlt. Verena und ich mußten immerhin unsere täglichen 25 Kilometer absolvieren, und einmal ist uns sogar der Photoapparat mit einem ganzen, exponierten Film gestohlen worden. So bitte ich den Leser um Nachsicht gegenüber den Schwächen meiner Bilder. Aber es sind unsere eigenen, mit Ausnahme derjenigen von Conques und von Santiago, die ich mit der freundlichen Genehmigung von
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