Santiago, Santiago
französischen Großfamilien, die hier in der Obhut ihrer Patriarchen speisen, führen keine Brücken zu uns Fremdlingen.
Die Mutter der Wirtsleute hat jedoch ein Herz für die Pilger. Sie erkundigt sich nach unserem Woher und Wohin und stimmt unserem Plan, nach Santiago zu wandern, lebhaft und mit einem Schuß Hochachtung zu. Sie kennt Rosalie, die Wirtin am Ziel unserer nächsten Etappe, und gibt uns Grüße für sie mit. Wir werden sie gerne ausrichten.
Die Einsamkeit des Aubrac
5. Tag: Von Aumont-Aubrac nach Montgros
Vor uns liegt jetzt ein Gebiet, das im Mittelalter gefürchtet war: die Berge des Aubrac, eine einsame und wilde Landschaft, in der man sich verirren konnte und in deren Winkeln Räuber hausten. Der Aubrac ist ein breites Bergmaßiv, das bis auf 1300 Meter ansteigt und sich dann allmählich in das Tal des Lot senkt. Schon die Römer haben eine Straße quer durch diese Berge gebaut, und die mittelalterlichen Pilger sind ihr trotz ihrer Gefährlichkeit gefolgt. Man braucht zweieinhalb Tage, um den Aubrac zu durchqueren und die freundlicheren Ufer des Lot zu erreichen.
Das Verirren und die Räuber fürchten wir nicht, eher schon die Nässe des Tages. Denn es hat in der Nacht geregnet, und es sieht nach mehr Regen aus. Ein eingewachsener Weg bedeutet hier Nässe weit über die Knie hinauf. Darum gehen wir vorerst auf der Nationalstraße. Es ist Sonntagmorgen, und zur frühen Stunde gibt es noch keinen Verkehr. Aber es beginnt wieder zu regnen, und aus Nordosten bläst ein kalter Wind. Die Straße steigt langsam durch Alpweiden auf, dazwischen sind Föhren und Tannenwäldchen eingestreut.
Nach einigen Kilometern verlassen wir die Nationalstraße und folgen einem Sträßlein, das wahrscheinlich im letzten Jahrhundert angelegt worden ist. Die Wölken hängen tief, und der Nordwind bläst uns den Regen an die Beine. Wir frieren und sind nun auch auf der Straße bis über die Knie durchnäßt.
In Montbouson flüchten wir erschöpft ins Café des Dorfes. Die Männer sind beim sonntäglichen Aperitif, rasiert und im Sonntagskleid. Wir nasse Gestalten passen wieder einmal schlecht ins Bild. Aber der Kaffee hebt auch unser Lebensgefühl, und zu unserer Freude setzt der Regen aus.
Also weiter. Wir sind schon fast auf 1200 Meter Höhe. Es geht nun geradeaus, über Alpweiden mit vereinzelten Baumgruppen und Wäldchen. Auf den Wiesen blühen die Sommerblumen. Am Himmel zeigen sich blaue Flecken, und die Sonne dringt durch. Wir packen den Regenschutz ein.
Riesige Granitblöcke liegen in Haufen auf den Grenzen der einzelnen Weiden. Wer hat diese Weiden gesäubert? Wie haben diese Menschen die tonnenschweren Steine bewegt? Auch die Cevennen sind ein Rückzugsgebiet der Kelten, ähnlich der Bretagne und wie Wales und Irland. Ist es keltische Technik, die gleiche, mit der sie auch die Menhire transportiert und aufgerichtet haben?
Unser Ziel ist Montgros, wir sind »Chez Rosalie«, bei der Freundin unserer gestrigen Wirtin, angemeldet. Gegen zwei Uhr kommen wir an. Der kleine Weiler lehnt an einem Vulkankegel. Es sind wenige Häuser, aber alle leben. Die Bauern treiben hier oben Milchwirtschaft und Viehzucht.
Rosalie ist eine junge energische Frau. Mit ihrem Mann zusammen führt sie einen rustikalen Berggasthof. Das Lokal scheint bei den Ausflüglern der Region beliebt zu sein. Sie gehen am Sonntag hier essen, haben gerade die Hauptgänge hinter sich gebracht. Berge von Platten und Geschirr türmen sich auf, Desserts mit viel Schlagsahne werden aufgetragen. Die Flaschen werden geleert, man wartet auf den Kaffee. Begreiflich, daß Rosalie keine Zeit für uns Neuankömmlinge hat. Erst müssen die letzten Runden der gastronomischen Schlacht geschlagen werden.
Da kommen auch die beiden Pilgerfrauen an. Sie sind nach uns abmarschiert und sind darum dem Regen entgangen: die Weisheit des Wartenkönnens. Schließlich sind wir versorgt, und der Sonntagnachmittag läßt uns Zeit, vom Hausberg aus die Weite der Cevennenlandschaft zu erkunden: endlose Weiden, dunkle Tannen, da und dort ein Felsenbuckel. Himmelsbläue umgibt uns, weiße Wolken ziehen weit über die Cevennen zum Rhônetal hin. Es wäre ein Ort zum Bleiben, doch wir sind anders angetreten. Santiago ruft.
In loco horroris et vastae solitudinis: Augustinus
6. Tag: Von Montgros nach Saint-Chély-d‘Aubrac
Von Rosalies Haus führt der Weg zwischen alten Mauern durch blühende Bergwiesen. Da taucht vor uns im Morgenlicht ein Städtchen auf, wie wir es
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