Sartre
Zeit allmählich reif, um Stärken und Schwächen der Philosophie Sartres im Einzelnen differenziert zu beurteilen. Dem Intellektuellen und Grenzgänger Sartre kann man nur leidenschaftlich begegnen; doch seine philosophischen Thesen verdienen eine argumentative Würdigung ohne Voreingenommenheit. Sartre ist ein Philosoph des 20. Jahrhunderts, der wie andere auch Stärken und Schwächen vorzuweisen hat. Eine Gefahr bei der Rezeption von Sartre besteht darin, dass sein Werk unter seiner zeitweise geradezu fantastischen weltweiten Berühmtheit leidet, die zur Verbreitung von Klischees enorm beigetragen und das Werk fast verstellt hat. Ruhm hat Sartre allerdings schon früh angestrebt; so charakterisiert er sich 1926 selbst in einem Brief: »Ich stelle mir den Ruhm wie einen Ballsaal voll befrackter Herren und dekolletierter Damen vor, die mir zu Ehren ihre Gläser erheben. Das ist sicherlich eine Bilderbuchvorstellung, aber ich habe dieses Bild seit meiner Kindheit in mir. Es lockt mich nicht, doch lockt mich der Ruhm, denn ich möchte weit über den anderen stehen, die ich verachte.« 2
Auch wenn Bernard-Henri Lévy die Schwächen dieses »absoluten Intellektuellen« 3 scharf herausarbeitet, erklärt er Sartre zu
dem
Philosophen des 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf Martin Heidegger (1889–1976), Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und Theodor W. Adorno (1903–1969) gibt es allerdings keinen Grund, Sartre im deutschsprachigen Raum den gleichen [10] Stellenwert wie in Frankreich einzuräumen. Hier reicht es zur Würdigung Sartres, davon auszugehen, dass er überhaupt zu den wichtigen Philosophen des 20. Jahrhunderts gehört. Die unübertroffene Besonderheit Sartres sehe ich weniger in seiner ausgearbeiteten Philosophie als vielmehr in seiner süchtigen Intellektualität, die sich alles zum Gegenstand der Untersuchung nimmt. Kein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts hat eine derartige Kombination von Ehrgeiz und Konfusion, Abstraktion und Konkretion, Fähigkeit zur ideenreichen Synthese und Schwäche der Argumentationskraft ausgebildet wie Sartre. Seiner Philosophie kann man wohl nur gerecht werden, wenn man sich von ihr begeistern lässt und ihr zugleich skeptisch, vielleicht sogar ablehnend gegenübersteht. Das Besondere Sartres ist, dass es ihm gelingt, in fast jedem Gegenstand aus Literatur, Theater, Kunst und Politik philosophische Bedeutung zu sehen. Bemerkenswert ist Simone de Beauvoirs Bericht über ein Essen zu dritt mit Raymond Aron (1905–1983): »Aron wies auf sein Glas: ›Siehst du,
mon petit camarade
, wenn du Phänomenologe bist, kannst du über diesen Cocktail reden, und es ist Philosophie!‹ Sartre erbleichte vor Erregung: das war genau, was er sich seit Jahren wünschte: man redet über den nächstbesten Gegenstand, und es ist Philosophie.« 4
Die Intention dieser Einführung ist es, gedankliche Quereinstiege in die Philosophie Sartres zu finden und Kontexte herzustellen, die seine Philosophie zugleich als aktuell und sachlich interessant erschließen. Es wird nicht nur der Philosoph Sartre im engeren Sinne zum Gegenstand, sondern das Wirken Sartres wird insgesamt als ein Engagement unter philosophischen Vorzeichen gedeutet, das eine »konkrete« Philosophie ausdrückt. Sartre wird in die Philosophie des 20. Jahrhunderts und speziell in die französische Philosophie mit ihren Besonderheiten eingeordnet. Dabei werden seine philosophischen Hauptwerke
Das Sein und das Nichts, Fragen der Methode
,
Kritik der dialektischen Vernunft
und
Der Idiot der Familie
besonders gewürdigt.
[11] Sartre ist ein Philosoph, über den es vieles zu erzählen gibt. Auch wenn dies keine Biografie ist, soll diese Dimension nicht ausgeklammert werden, zumal er selbst die philosophische Biografie zu einem eigenen Genre entwickelt hat und die Freiheit nicht nur thematisiert, sondern auch lebt. So liebt er das Leben im Hotel mit der damit einhergehenden Anonymität, auch wenn er zwischenzeitlich durchaus in Wohnungen gelebt hat. Er reist viel, vermeidet dabei aber Aufenthalte. 5 Sartre besitzt wenig, nicht zuletzt weil er sein reichlich verdientes Geld gleich wieder verschwenderisch ausgibt. Berühmt ist die Höhe seiner Trinkgelder. Trotz aller Grenzüberschreitungen ist Sartre allerdings fast immer Bewohner von Paris geblieben. Die beiden Stadtteile Saint Germain des Prés und Montparnasse bildeten das »Biotop« seiner »Bohème-Existenz«. 6 Und wenn er sich zum Beispiel während seines Lehrerdaseins in Le Havre oder
Weitere Kostenlose Bücher