Sartre
öffentlich aussprechen, daß manche Philosophen für die Menschen heilsam sind, andere tödlich, und daß der konkrete Nutzen einer [36] bestimmten Weisheit kein allgemeines Kennzeichen der Philosophie schlechthin ist.« 8 Nizan gibt den »einfachen Menschen das letzte Wort über die Philosophie, die sie zunächst nach ihren Folgen beurteilen« 9 . Im Klang fast ironisch, aber doch ernsthaft, verteidigt er »das Denken der Menge […] gegen die Selbstgefälligkeit der Berufsdenker«: »Die simplen Menschenköpfe fühlen sich in der Eiswüste der Ideen nicht wohl. An den intelligiblen Orten läßt es sich nicht frei atmen. Sie besitzen die Unverfrorenheit, sich nicht ausschließlich für die Brillanz eines Arguments, die formalen Feinheiten einer Lösung, der Geschicklichkeit philosophischer Begriffsakrobatik zu begeistern.« 10 Ausdrücklich wird Julien Benda kritisiert, indem ihm die Position eines Nutzens durch Nicht-Nützlichkeit untergeschoben wird. 11
Paul Nizan selbst betritt mit seinen Überlegungen zur Nützlichkeit der Philosophie nach dem Maßstab der einfachen Menschen eine schiefe Ebene, die in folgenden Übersetzungsschritten verhängnisvoll ist:
1. Die Philosophie soll der Menschheit dienen.
2. Der Menschheit dienen heißt dem Proletariat dienen.
3. Dem Proletariat dienen heißt der Kommunistischen Partei dienen.
So weit propagiert Nizan die Übersetzung selbst. Andere haben sie jedoch in zwei weiteren Schritten fortgesetzt:
4. Der Kommunistischen Partei dienen heißt der Parteileitung dienen.
5. Der Parteileitung dienen heißt Stalin dienen.
Bei Paul Nizan wird in aller Schärfe der Schwachpunkt jeder vordergründig nützlichen Philosophie deutlich: Nützliche Philosophie gibt sich selbst auf und delegiert die Festlegung der Wahrheit nach außen. Wenn die Alternative sich auf reine oder nützliche Philosophie beschränken müsste, kann im Namen der Philosophie der Weg eigentlich nur auf Seiten der reinen Philosophie gesucht werden. Die nützliche Philosophie ist der Anfang vom Ende der Philosophie überhaupt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es einen [37] dritten Weg in der Philosophie geben kann. Jean-Paul Sartre glaubt dies, auch wenn er in Teilen seines Werks und vor allem seiner öffentlichen Stellungnahmen bisweilen doch auf der Seite Paul Nizans steht und eine für die Weltrevolution vermeintlich nützliche Philosophie stützt. 12 Überwiegend ist Sartre jedoch eine Philosophie zuzuschreiben, die eine Vorgabe der Nützlichkeit von außen nicht akzeptiert. 13 Als engagierte Philosophie will diese gleichzeitig konkret sein, so dass die Vermittlung von Philosophie und Literatur für diesen Weg der Philosophie keineswegs äußerlich ist. 14 Sartre selbst hebt zu Beginn von
Fragen der Methode
hervor, dass es für ihn nicht
die
Philosophie gebe, sondern in »Wirklichkeit gibt es
Philosophien
« 15 . Gleichwohl sieht er folgende Gemeinsamkeit: »Jede Philosophie ist praktisch, sie mag zunächst noch so kontemplativ erscheinen.« 16 Von den originalen Philosophen, die er mit Descartes, Locke, Kant, Hegel und Marx identifiziert, unterscheidet er die bloß »Gebildeten, die nach den großen Blütezeiten kommen«; »sie bearbeiten das Feld, machen Inventur und errichten einige Bauten, es kommt sogar vor, daß sie gewisse innere Veränderungen beitragen; sie nähren sich jedoch noch vom lebendigen Denken der großen Toten« 17 . Selbstverständlich will Sartre nicht nur gebildet sein, sondern zu den originalen Philosophen gehören.
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10. Sartre in der Philosophie des 21. Jahrhunderts
Sartre selbst hat sich als isoliert erlebt: »Ich bin seit siebzehn Jahren an eine Arbeit über Flaubert gefesselt, die die Arbeiter nicht interessieren kann, da in einem komplizierten und bestimmt bürgerlichen Stil geschrieben.« 1 Diese Eigendiagnose verarbeitet den Sachverhalt, dass Sartre trotz seiner bleibenden Wichtigkeit als intellektuelle Figur in der französischen Philosophie erstaunlich schnell an den Rand gedrängt wird. Jeder kennt ihn, aber er spielt sachlich in der Philosophie eine immer geringere Rolle. Wer Sartre nur als Fachphilosophen im engeren Sinne begreift, wird sich schwer tun, ihm im 21. Jahrhundert noch einen zentralen Platz einzuräumen. Vermutlich wird das Phänomen Sartre dennoch auf Dauer Faszination auslösen.
Darüber hinaus hat er viele spannende Themen besetzt; an erster Stelle ist hier das Verhältnis von Literatur und Philosophie zu nennen. Eine Philosophie,
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