Sartre
seines Denkens in Frankreich vorhanden ist. Ich nehme im Folgenden die Philosophie in Großbritannien und Deutschland als Formen einer Philosophie der Gegenwart und versuche die [29] Besonderheiten der französischen vor diesem Hintergrund zu profilieren.
Philosophie in Großbritannien und Deutschland im Kontrast
Die Philosophie in Großbritannien konzentriert sich auf zum Teil sehr spezielle Probleme, so dass die analytische Philosophie als ein typisches Beispiel für dieses Fach in Großbritannien gelten kann. Die Fähigkeit zur Spezialisierung mag darin begründet sein, dass die Entwicklung der britischen Nation spätestens seit der »glorious revolution« von 1688 in erstaunlich ruhigen Bahnen verläuft. Mit John Locke (1632–1704) steht ein Philosoph gedanklich hinter dieser erfolgreichen Revolution. Auch wenn es sicher einiges zu kritisieren gibt, so bilden die konstitutionelle Monarchie und das Parlament doch die Gewähr, insgesamt auf dem richtigen Weg zu sein. Die Philosophie muss also nicht der Versuchung erliegen, die Welt zu retten; die Welt ist – zumindest in Großbritannien – schon gerettet. John Stuart Mill (1806–1873) baut kein großes System der Philosophie, sondern macht sich Gedanken über das größte Glück der größten Zahl und streitet für die Freiheit aller und speziell auch für die Rechte von Frauen. Ein Sozialreformer also, aber kein revolutionärer Feuerkopf; denn die britische Philosophie hat ihre große gesellschaftsverändernde Aufgabe schon erfüllt. Deshalb fühlen sich die angelsächsischen Philosophen sehr viel freier, sich auf den innerakademischen Raum zurückzuziehen und sich nur im Einzelfall gesellschaftlich einzumischen. So kommt es zu der hohen Spezialisierung der Theorien, einer weit verbreiteten Orientierung an den Wissenschaften und gleichzeitigen Skepsis gegenüber der metaphysischen Spekulation. Kein Wunder, dass der Österreicher Ludwig Wittgenstein und die Philosophen des Wiener Kreises – im [30] deutschsprachigen Raum lange Außenseiter – hier besonders geschätzt werden.
Ganz anders in Deutschland: Bescheiden war die Philosophie hier nie. Heinrich Heine (1797–1856) charakterisiert sie aus seinem Exil in Paris: »Die deutsche Philosophie ist eine wichtige das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit, und erst die spätesten Enkel werden darüber entscheiden können, ob wir dafür zu tadeln oder zu loben sind, daß wir erst unsere Philosophie und hernach unsere Revolution ausarbeiteten. Mich dünkt, ein methodisches Volk wie wir, mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen. Diese Ordnung finde ich ganz vernünftig. Die Köpfe, welche die Philosophie zum Nachdenken benutzt hat, kann die Revolution nachher zu beliebigen Zwecken abschlagen. Die Philosophie hätte aber nimmermehr die Köpfe gebrauchen können, die von der Revolution, wenn diese ihr vorherging, abgeschlagen worden wären.« 1
Für Deutschland, das es nie zu einer bürgerlichen Revolution gebracht hat, stellt Philosophie nach 1789 immer auch einen Revolutionsersatz dar. Im deutschen Idealismus mit den großen Systemphilosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) können wir eine Erscheinungsform des deutschen Sonderweges sehen, der gegenüber den Nachbarländern zur Überheblichkeit neigt. Auch Karl Marx (1818–1883) mit seinem Versuch, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, hat Teil am deutschen Sonderweg und der deutschen Systembauerei. Große Philosophie geht in Deutschland begrifflich immer aufs Ganze. Spezialisierung und das Glück der größten Zahl stoßen demgegenüber nur auf Verachtung. Dies beruht auf Gegenseitigkeit: Die deutschen Idealisten werden in Großbritannien doch eher als unverständlich und größenwahnsinnig belächelt.
[31] Von Descartes bis Derrida
In der französischen Philosophie werden traditionell mit René Descartes (1596–1650), Blaise Pascal (1632–1662), Baruch de Spinoza (1632–1677), Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Henri Bergson (1859–1941), aber auch mit den Moralisten Michel de Montaigne (1533–1592) und François La Rochefoucauld (1613–1680) ganz andere Autoren favorisiert als in Großbritannien und Deutschland. Schon seit der Aufklärungszeit mit François Marie Voltaire (1694–1778), Claude Adrien
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