Saukalt
Monatsgehälter überzieht. Im Gegenteil,
wenn du mit den Leuten redest, tun die wirklich so, als wäre es ihr Geld, das
sie da ausgeben. So etwas wäre damals undenkbar gewesen. Aber wie dem auch sei.
Jedenfalls gibt es heutzutage viel mehr Autos, und die ländliche Gegend wirkt
nicht mehr ganz so menschenleer wie damals. Vor 40 Jahren hast du im Winter
geglaubt, dass alle entweder gestorben oder mit den Vögeln in den Süden gezogen
sind. So wenig hat sich da gerührt. Wie in einer Geisterstadt bist du dir da
als Fremder in Tratschen vorgekommen. Zumindest was die Nachmittage und Abende
anging. Am Vormittag gingen die Leute wenigstens noch einkaufen. Aber am
Nachmittag hast du fast niemanden mehr auf der Straße gesehen. Die Wochenenden
und die Feiertage waren freilich eine Ausnahme. Da hat sich schon ein bisschen
was getan. Vor allem an den Sonntagen. Weil den Kirchgang haben die Tratschener
freilich auch im Winter nicht abgeschafft. Und den Frühschoppen danach auch
nicht. So wirklich vom Hocker gerissen hat das zwar auch niemanden, aber
wenigstens rührte sich ein bisschen was. Zumindest mehr als unter der Woche.
Was hätte sich wochentags auch tun sollen? Die Zuckerrübenernte war um diese
Jahreszeit schon lange vorbei. Genau wie die Weinlese. Damals wie heute. Von
daher gab es nicht wirklich einen Grund, vor die Tür zu gehen und sich in der
Kälte eine rote Nase zu holen. Vor Weihnachten waren sowieso alle mit diversen
Vorbereitungen auf das bevorstehende Fest beschäftigt. Strohsterne für den
Weihnachtsbaum herstellen, Kekse backen, kleinere Geschenke basteln und was
weiß ich noch alles. Natürlich darfst du auch das Besinnen nicht vergessen.
Damit waren damals auch viele Menschen beschäftigt. Zumindest im Advent.
Irgendwie glaube ich, dass die Menschen im Laufe der Jahre vergessen haben,
dass die Weihnachtszeit eine besinnliche sein soll. Da geht es jetzt noch viel
hektischer zu als das ganze Jahr über. Weil zu all der Arbeit kommen jetzt auch
noch die weihnachtlichen Verpflichtungen. Immerhin müssen ja die Wünsche der
Familie befriedigt und Punsch und Glühwein auf sämtlichen Weihnachtsmärkten
verkostet werden. Das ist Stress pur. Zum Besinnen bleibt da keine Zeit. In
Tratschen waren die Mitglieder vom Ortsbildverschönerungsverein vermutlich die
Einzigen, die keine Ruhe hatten, weil sie sich Neues fürs kommende Frühjahr
ausdenken mussten. Das war eine wahnsinnig verantwortungsvolle Sache, die man
nicht auf die leichte Schulter nehmen konnte. So ein Ort wollte schließlich gut
präsentiert sein. Da und dort ein paar Blumen zu pflanzen, reichte sicher nicht
aus. Dementsprechend ernst gingen die Damen und Herren auch an ihre Tätigkeit
heran. Für ihre Erzfeinde, die Ortsbildverschandler, war dafür bis zum Frühjahr
so etwas wie Schonzeit. Die zahlreichen Fußballfans hatten freilich keine gute Zeit.
Im Winter wird ja bekanntlich nicht so viel gespielt. So blieb den
Ballverrückten nichts anderes übrig, wie am Sonntag nach der Kirche im
Wirtshaus Kartenspielen zu gehen. Ich meine, die ersten ein oder zwei Wochen
nach dem Ende der Meisterschaft redeten sie normalerweise noch über die
vergangene Saison, aber das wurde natürlich auch bald fad. Im Jahr 1971 gab es
über die abgelaufene Meisterschaft sowieso nicht viel zu sagen, weil der FC
Tratschen ab Juni nicht mehr mitgespielt hatte. Nach dem Tod vom Höllerer Hans,
der die Mannschaft trainiert hatte, war nichts mehr mit dem Spielen, und der
Verein wurde Letzter in der Tabelle. Ein herber Rückschlag in der
Vereinsgeschichte. Gar keine Frage. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der es
stetig bergauf gegangen war mit dem Verein, hatte der Höllerer sterben müssen.
Eine echte Katastrophe für die Mannschaft. Aber so ist es eben gewesen. Jetzt
könnte man meinen, dass die Vorkommnisse rund um den Trainer und den pädophilen
Bürgermeister genügend Gesprächsstoff für lange Winterabende hergegeben haben.
Immerhin war es wegen der Angelegenheit zu einem ziemlichen Gemetzel gekommen,
bei dem vier Menschen ihr Leben verloren. Aber nichts da. Die Tratschener
breiteten, wie schon so oft in der Geschichte des Ortes, den Mantel des
Schweigens über diese Vorfälle aus und verloren schon nach einigen Wochen
öffentlich kein Wort mehr darüber. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man
natürlich schon immer wieder. Aber nie öffentlich. Nach außen hin war es fast
so, als hätten diese Personen nie existiert, und die oberflächliche Ruhe kehrte
wieder ein. Vor
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