Sayuri
geschah, auf der Straße und im Haus blieb alles ruhig.
»Weiter«, befahl Kiyoshi schließlich. Er spürte Sayuri neben sich zitternd auf dem Boden hocken und zog sie mit sich hinter Marje her, die den schmalen Gang am Haus entlang in den großen Garten schlich.
Verdammt! Auf dem Nachbargrundstück spielten zwei Kinder. »Wir haben keine Wahl«, murmelte Kiyoshi leise. »Los.«
»Können wir sie nicht irgendwie ablenken?«, fragte Marje leise.
Plötzlich tauchte eine dunkle Gestalt hinter ihnen auf. Kiyoshi schrak zusammen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass Thar ihnen immer noch gefolgt war.
Mit einem Satz sprang der junge Mann über den Zaun, der die zwei Gärten voneinander trennte. »He, ihr beiden«, rief er den Kindern zu und grinste breit, als sie sich ihm zuwandten.
Kiyoshi hielt die Luft an und drückte sich und Sayuri tiefer in den Schutz der Sträucher.
»Wer bist denn du?«, fragte der ältere Junge misstrauisch.
Thar breitete die Arme aus und zeigte ihnen die leeren Handflächen. »Ich hab eine Frage an euch«, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass er in ihrem Garten auftauchte.
Mit einigen Schritten durchquerte er den Garten und blieb vor den Kindern stehen. »Was habt ihr denn da?«, fragte er und in seiner Stimme schwang pures Erstaunen mit. »So was hab ich ja noch nie gesehen!«
Die Kinder kicherten. »Das ist eine Puppe, du Blödmann«, spottete das Mädchen. »Schau, das hier ist das Kleid!«
»Eine Puppe?« Thars Stimme klang so ungläubig, dass Kiyoshi Mühe hatte, ein Lachen zu unterdrücken. »Ehrlich? Ich kenne Puppen, aber so eine hab ich noch nie gesehen. Kann die auch sprechen?«
Marje schüttelte grinsend den Kopf. »Auf Thar ist doch immer wieder Verlass«, murmelte sie leise.
Kiyoshi schaute zu Sayuri. »Bereit?«, fragte er, und als das blasse Mädchen nickte, huschten sie geduckt hinter Marje durch den Garten bis zu dem Baum, von dem aus man auf die Mauer klettern konnte.
Der Baum hatte eine Krone aus dunklen, dichten Blättern und bot ihnen einen guten Sichtschutz. Dennoch würde sie jeder sehen, der hochblickte. Sie mussten sich beeilen.
Marje kletterte als Erste hinauf. Dann half Kiyoshi Sayuri, sich auf die Mauer hochzuziehen, während Marje von oben das schlanke Handgelenk ihrer Freundin ergriff. Schließlich griff Kiyoshi nach dem Stamm und machte sich daran, den Baum zu erklimmen. Gegenseitig halfen sie sich, vom Baum auf die Mauer zu gelangen.
Von dort war es nur noch ein Sprung in den Palastgarten, aber als Kiyoshi sah, wie hoch die Mauer war, zögerte er. Sie konnten sich alle Knochen brechen. Wie, bei Turu, war Marje hier heruntergekommen?
Doch in diesem Moment sah er eine Bewegung neben sich, und ehe er sie aufhalten konnte, war Sayuri schon in der Luft. Es sah so elegant und natürlich aus, als ob sie den ganzen Tag nichts anderes machen würde.
Einen Fuß voraus kam sie sicher am Boden auf und drehte sich ohne zu taumeln zu ihnen um.
Verblüfft wechselten Kiyoshi und Marje einen Blick.
Springt , rief Sayuri. Euch wird nichts passieren!
Kiyoshi zögerte. Doch da ergriff Marje seine Hand. »Auf drei?«, fragte sie.
Er nickte. »Zehn wäre mir lieber«, gab er grimmig zurück. »Zögert den Schmerz noch ein wenig hinaus.«
Sie kicherte, dann packte sie seine Hand fester und stieß sich von der Mauer ab.
»Die kann blinzeln?«, hörte er Thar noch voller Begeisterung im Garten fragen.
Dann schloss Kiyoshi die Augen.
Aber einen Moment später riss er sie erstaunt wieder auf. Statt zu stürzen, schwebten sie in die Tiefe, als würde ein dichtes
Luftkissen ihren Fall verlangsamen. Sanft berührten ihre Füße den Boden im Palastgarten. Verwirrt warf er Sayuri einen Blick zu, den sie scheu lächelnd entgegnete. Mit jeder Minute schien ihre Magie stärker zu werden.
Bring mich zum Kaiser, bat sie. Kiyoshi starrte sie noch einen Moment fassungslos an. Doch dann nickte er, während Marje bereits an den Rand des kleinen Wäldchens gelaufen war, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Was sie sah, schien sie zufriedenzustellen und nun kam auch Kiyoshi wieder zu sich und schaute sich sichernd um.
Wie er gehofft hatte, waren die wenigsten Soldaten im Palast zurückgeblieben. Miro hatte seine Truppen beim ersten Klang der fremden Hörner losgeschickt. Das war das übliche Prozedere, um die Stadt gegen Angriffe zu verteidigen. Kiyoshi lauschte. Der Ruf der Hörner schien mittlerweile etwas näher zu
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