Sayuri
auch Shoan.
Marje sah, wie Kiyoshi sich in den Schatten zurückzog. Für sie war es in der Zwischenzeit selbstverständlich, dass er immer in ihrer Nähe war. Doch sie konnte sich nur noch zu gut an die letzte Versammlung erinnern, die sie in Sayuris Laden abgehalten hatten. Damals hatte auch sie den Prinzen noch abgrundtief gehasst. Und die Leute, die Shoan zusammengetrommelt hatte, waren alles andere als Verehrer der Kaiserfamilie.
Die Jungen, die inzwischen den Raum betreten hatten, schauten sich neugierig um, ohne Kiyoshi Beachtung zu schenken. Traurig stellte sie fest, dass sie kaum jemand von ihnen kannte.
»Es werden noch einige kommen«, sagte Shoan, der ihren Blick bemerkt haben musste.
Marje nickte knapp, dann sah sie zu Thar. Er hatte sich in der Zeit, in der sie in der Wüste gewesen waren, ziemlich verändert. Nicht nur, dass sich eine lange, schmale Narbe über seine Wange zog und seine dunkle Kleidung geflickt war, er hatte sich auch die Haare wachsen lassen, die er teilweise zu Zöpfen geflochten hatte. Marje hatte das Gefühl, als wollte er Ruan und Milan nacheifern.
Auch seine Gesichtszüge waren ernster geworden. Kälter. Aber in seinen Augen erwachte ein vertrautes Funkeln, als er ihren Blick erwiderte. »Zufrieden?«, fragte er und breitete die Arme leicht aus.
Sie lächelte leicht. »Es hat sich viel verändert, Thar«, sagte sie hastig. Kurz erwog sie zu erzählen, dass Milan am Leben war. Aber das würde zu viele Fragen aufwerfen und sie hatten wenig Zeit. Sie wusste nicht, wie lange die Zentauren brauchten, um in die inneren Stadtviertel vorzudringen.
»Hat Miro in den letzten Tagen noch nach Sechzehnjährigen suchen lassen?«, erkundigte sie sich.
Alle im Raum verstummten.
»Nein«, antwortete Shoan.
Marje holte Luft und warf Sayuri einen unsicheren Blick zu. »Ich weiß nicht, womit Miro begründet hat, dass die Jagd beendet ist. Aber wir haben in Erfahrung gebracht, dass es ihm nie um alle Sechzehnjährigen ging.«
Ihre Freundin starrte mit ausdruckslosen Augen auf die Tischplatte. Unruhig knetete sie ihre Finger. Ihr gehetzter Blick traf Marje und versetzte ihr einen Stich.
»Miro hat nur eine von uns gejagt«, sagte Marje und tauschte einen Blick mit Kiyoshi, wie um sich Mut zu machen.
»Sie haben Sayuri gejagt«, sagte sie leise.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Thar mit gerunzelter Stirn.
»Was redest du da?«, rief ein Junge von weiter hinten. Er war gerade erst zur Tür hineingekommen.
»Alles zu erklären, würde zu lange dauern«, versuchte Marje die Zwischenrufe zu übertönen.
»Sayuri besitzt wie der Kaiser magische Kräfte. Sie hat Macht über die Quelle. Und sie kann das Leben in der Stadt aufrechterhalten. Doch Miro hat Angst vor ihren Fähigkeiten. Deshalb hat er sie jagen lassen.«
Einen Moment lang herrschte fassungsloses Schweigen. Ein paar Mädchen und Jungen sahen sie aus weit aufgerissenen Augen an, während andere den Kopf schüttelten. Niemand im Raum schien Marje Glauben zu schenken.
»Magische Kräfte?«, fragte ein rothaariges Mädchen spöttisch und zeigte auf Sayuri. »Was erzählst du uns da?«
»Die Wahrheit.« Kiyoshis Stimme war dunkel. Er sprach nicht laut, aber seine Worte schienen bis in den letzten Winkel des Raums zu dringen. Mit wenigen Schritten trat er aus dem schützenden Schatten und zog alle Blicke auf sich, als Tshanils Licht auf ihn fiel.
Marje hielt unwillkürlich die Luft an, als er die Kapuze zurückstrich.
»Kiyoshi«, murmelte Thar fassungslos.
Die anderen Straßenkinder waren verstummt und starrten entsetzt auf den Prinzen, der plötzlich vor ihnen stand.
»Marje hat die Wahrheit gesagt«, fuhr Kiyoshi fort. »Wir brauchen eure Hilfe. Die Zentauren sind gerade dabei, in die Stadt einzudringen. Wir wollen keine unnötigen Kämpfe und müssen dafür sorgen, dass sie möglichst ungehindert den Palast erreichen.«
Kurz sah er zu Marje.
In dem Moment stand Sayuri auf. Alle Mutlosigkeit war mit einem Schlag aus ihrem Gesicht gewichen. Stattdessen strahlte sie eine tiefe Ruhe aus. »Ihr müsst mir helfen«, erklang ihre sanfte Stimme im Raum.
Marje sah die ungläubigen Blicke, die sich nun auf Sayuri richteten. Sie hatte ihren Mund nicht bewegt und doch konnte jeder ihre Worte hören, die wie ein leises Flüstern überall um sie herum in der Luft waren.
»Ich muss in den Palast«, fuhr Sayuri fort und ihre blassen Wangen erröteten.
»Es ist wichtig für uns. Und es ist wichtig für diese Stadt«, sagte sie und
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