Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
querfeldein.« Nein, ich bin nicht plötzlich zu einer Heiligen geworden, ich hoffe nur, dass ich in Gesellschaft meines kleinen Bruders nicht ständig an Mikael denken muss.
Kurz darauf laufen wir schweigend nebeneinander die Straße herunter, Hand in Hand. Und meine Gedanken eilen wieder dahin, wohin sie nicht sollen.
»Na toll. Sonst plapperst du immer wie ein Wasserfall, und jetzt, wo ich gern ein wenig Gesellschaft hätte, kriegst du den Mund nicht auf!«
»Ich bin eben ganz ruhig.«
Ich gebe ihm einen schmatzenden Kuss auf die Backe.
»Nein. Igitt! Wie eklig!«, schreit er und reibt sich sofort die Backe, um den Kuss abzuwischen. Ich muss laut lachen und sehe mich um. Um uns herum nur Grün, das uns mit einer zarten Umarmung aus Harz und Piniennadeln umfängt. Es ist wirklich schön hier.
Von Zeit zu Zeit fragt mich Marco: »Wie heißt das da?«, und zeigt auf einen Baum oder eine Blume. Ich weiß darauf so gut wie nie eine Antwort und verspreche ihm, ihn demnächst mit Genziana bekannt zu machen: Sie wird ihn in sämtliche Geheimnisse der Natur einweihen.
»Ich bin müde.«
»Aber der Turm ist doch noch weit weg.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass er schrecklich weit weg ist!«
Ich werfe ihm einen gespielt bösen Blick zu, aber er schaut mich bloß mit großen Augen an, und dagegen bin ich wehrlos. Also, mit diesen riesigen Kulleraugen kommt er ganz nach mir! Und ich dachte, das wäre meine Geheimwaffe … Der Arme, er schwitzt und ist eindeutig erschöpft.
»Na gut. Du darfst bei mir mitfahren. Genieß die Reise, denn mit einem Ferrari Scarlett dürfen nur die wenigsten fahren. Mach dich bereit, gleich heult der Motor auf, und die Straße rast unter dir davon. Fertig?«
»Ja!« Er streckt die Arme aus, und ich nehme ihn auf die Schultern wie früher, als er noch kleiner war. Ich laufe los, und er kriegt sich gar nicht mehr ein.
»Schneller!«, schreit er.
Kurz darauf kann ich nicht mehr, ich werde langsamer und beginne sein Lieblingslied zu singen, Kleine freche Sonne . Das Lied muss etwas Einschläferndes an sich haben, denn kurz darauf spüre ich, wie sein kleiner Kopf schlaff auf meine Schulter sinkt. Er ist eingeschlafen. Ich kehre um, und auf dem Rückweg holt mich die untergehende Sonne ein. Kein Sonnenuntergang gleicht dem anderen. Meine Gefühle jedoch haben sich seit gestern nicht verändert. Mikael Lancieri beherrscht meine Gedanken. Und mit seinen Eisaugen würde ich gern einen einzigartigen Sonnenuntergang teilen.
17
U m meinen Fauxpas mit den Klamotten beim Konzert wieder wettzumachen, über den man den barmherzigen Mantel des Schweigens werfen sollte, habe ich heute Morgen beschlossen, etwas mehr Sorgfalt als sonst für mein Styling aufzuwenden. Das wäre doch ein guter Start in die Woche. Ich habe ein Paar graue Jeans ausgewählt, stone washed, und mein Lieblings-T-Shirt: zwei weiße Einhörner, die majestätisch dahingaloppieren, mit einer Handvoll Silbernieten auf der Schulter. Das habe ich am letzten Schultag getragen, als Matteo mir seine Liebe gestanden hat.
Matteo … Mir wird erst jetzt klar, dass ich gar nicht mehr an ihn gedacht habe, seit ich Mikaels Augen begegnet bin. Kann es sein, dass der Gedanke an einen vollkommen Fremden mein Leben so komplett mit Beschlag belegt hat? Mit Matteo verband mich eine enge Freundschaft, während ich mit Mikael, wenn überhaupt, nur einen Blick gewechselt habe. Und nicht einmal da bin ich mir sicher. Ich könnte mir das Ganze auch nur eingebildet haben.
Auch heute scheint die Sonne, trotz der frühen Stunde ist die Luft schon angenehm warm. Ich bin früh dran, was vermutlich daran liegt, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben Lust habe, zur Schule zu gehen.
»Willst du einsteigen?«
Das ist Umberto. Einen Moment lang hatte ich gehofft, es wäre …
Er lehnt sich aus dem Fenster einer Limousine. Am Steuer sitzt ein Mann, der ihm sehr ähnlich sieht, wenn man von den mit der Zeit ergrauten Haaren und ein paar Falten rund um die Augen absieht. Das muss sein Vater sein.
»Nein, danke.«
Das Auto fährt allerdings nicht gleich los. Umberto wirkt enttäuscht, er beobachtet mich eindringlich.
»Wir sehen uns in der Schule«, füge ich hinzu.
Er steigt aus und läuft neben mir her. »Scarlett, habe ich irgendetwas falsch gemacht?« Er schaut mich verzweifelt an.
»Nein. Wie solltest du? Du bist immer sehr freundlich zu mir. Ich will mir nur ein wenig die Beine vertreten.«
»Wenn irgendetwas nicht in Ordnung wäre, dann würdest
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