Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
entgegen, dem man die schlaflose Nacht nur zu deutlich ansieht. Ich kneife die Augen zusammen und versuche in dem Repertoire meiner Gesichtsausdrücke einen zu finden, der Entschlossenheit demonstriert. Doch dabei kommt nur eine klägliche Grimasse heraus, also schnappe ich mir meine Bürste und striegele damit energisch meine Haare. Ich werde diesen Tag mit hocherhobenem Kopf beginnen und versuchen, meine Ängste und meine Traurigkeit zu kontrollieren, die mich ab und an zu überwältigen drohen. Cremona ist weit weg, und damit alle meine alten Lehrer, die ich schon so gut kannte, dass sie mir nicht mehr viel Angst machten. Manuela mit ihren guten Ratschlägen ist ebenfalls weit weg und Matteo mit seinen Blicken, es ist einfach alles weit weg, was ich bis heute als mein »Zuhause« betrachtet habe.
Der Umzug war anstrengend, und vor allen Dingen kam er so überraschend. In dem einen Moment denke ich noch darüber nach, wie wohl die Sommerferien werden und was in den letzten Schultagen Aufregendes passiert ist. Und im nächsten erfahre ich, dass mir ein Umzug mit all seinen Konsequenzen bevorsteht.
»Warum habt ihr mir das nicht früher gesagt? Jetzt kann ich mich nicht mal mehr von meinen Schulfreunden verabschieden … Ich gehöre auch zur Familie, falls euch das noch nicht aufgefallen ist!«
»Schatz, versuch das doch zu verstehen. Wir haben dir nichts erzählt, um dich nicht zu beunruhigen. Ich weiß doch, wie du dir alles zu Herzen nimmst, und ich wollte nicht, dass sich das auf deine schulischen Leistungen auswirkt, vor allem jetzt am Ende des Schuljahres«, meinte Arrigo, mein Vater. Wenn ich sauer auf meine Eltern bin, nenne ich sie immer beim Vornamen.
Ich habe versucht, ihnen zu erklären, warum ich auf keinen Fall Cremona verlassen kann, vor allem nicht jetzt. Dabei dachte ich in erster Linie an Matteo und diesen flüchtigen Kuss im Physiksaal wenige Stunden zuvor. Aber die Entscheidung war schon gefallen, und ich musste mich damit abfinden.
»Du kannst dich doch jeden Tag mit deinen alten Schulfreunden unterhalten, wenn du willst. Am Telefon oder übers Internet.«
Was weiß mein Vater schon übers Internet?
»Scarlett, mir ist klar, dass es für dich hart sein wird, dich in einer neuen Stadt einzuleben, aber du wirst sicher schnell neue Freunde finden«, hat er gesagt und mich mit seinen großen blauen Augen angesehen. Da spürte ich auf einmal so ein ziehendes Gefühl in der Magengegend, das ich gar nicht weiter beschreiben könnte. Ich hätte ihm zu gern gesagt, wie frustriert ich mich fühlte, aber die Worte dafür kamen mir einfach nicht über die Lippen.
Es fällt mir nie leicht zu beschreiben, was ich gerade empfinde, und genauso wenig kann ich meine Gefühle zeigen. Wut oder andere Emotionen übermannen mich einfach, und dann steigen mir die Tränen in die Augen, es genügt ein einziges Wort, und ich fange unweigerlich an zu heulen. Und weil ich nicht in Tränen ausbrechen möchte, breche ich das Gespräch lieber ab und hülle mich in trotziges Schweigen.
»Scarlett, beeil dich, sonst kommst du zu spät!«, ruft mir meine Mutter von unten zu und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Ich stöhne laut und werfe den x-ten kritischen Blick in den Spiegel. Was stimmt denn bloß an mir nicht? Glatte blonde schulterlange Haare. Gut, die Spitzen sind ein bisschen gespalten. Manchmal sind meine Haare eben etwas empfindlich. Ich fahre mir über das Muttermal über der Oberlippe. Ein Erbe meiner englischen Großmutter.
Alles völlig normal, ich bin einfach zu normal, das ist das Problem. Vielleicht sollte ich mir die Haare färben, denn wenn ich schlecht drauf bin, kommen sie mir eher mausgrau vor als aschblond. Einfach mal ein hübsches Feuerrot wie die Tönung, mit der Manuela letztes Jahr nach den Ferien in die Schule gerauscht ist. Alle haben sie bewundert. Ich könnte mir auch einen Stufenschnitt zulegen und sie tiefschwarz färben. Dann kämen meine blauen Augen bestimmt auch besser zur Geltung: Sie sind so groß wie die meines Vaters, aber mit grauen Einsprengseln und …
Die Badezimmertür öffnet sich sperrangelweit, und Marco, mein kleiner Bruder, kommt hereingeschossen. »Machst du mal voran? Da hilft sowieso nichts mehr, du bist und bleibst hässlich!«, zieht er mich auf. Er springt einen Schritt auf mich zu, reißt mir die Bürste aus der Hand und streckt mir die Zunge heraus, dann dreht er sich um und rennt davon.
»Komm her, dann bist du dran!«, schreie ich und verfolge ihn die
Weitere Kostenlose Bücher