Scarpetta Factor - Thriller
war, ohne einen Zusammenhang zwischen ihr, Jerome Wild oder den Chandonnes zu vermuten. Sie waren einfach wegen eines dummen Zufalls darauf gestoßen, und zwar, weil Jean-Baptiste leichtsinnig geworden war und Mist gebaut hatte. Er war so unvorsichtiggewesen, seine DNA in einem gestohlenen Mercedes zu hinterlassen, und schlug in letzter Zeit über die Stränge. Er war im Begriff zu entgleisen, und nun hatten sie – hatte Benton – ihn wieder im Visier. Er war nicht nur ein Verbindungsstück oder ein Ast, sondern die Wurzel des Ganzen.
Sein Foto aus dem Verbrecheralbum erschien auf einem Flachbildschirm, der gegenüber von Benton an der Wand hing. Es handelte sich um die letzte bekannte Aufnahme, die das texanische Justizministerium vor knapp zehn Jahren gemacht hatte. Wie sah der Schweinehund heute aus? Benton konnte den Blick nicht von dem Foto auf dem Bildschirm abwenden. Es war, als starrten sie einander feindselig an. Der rasierte Schädel, das asymmetrische Gesicht, ein Auge tiefer sitzend als das andere. Die Haut drum herum war rot entzündet, und zwar nach einer Verätzung mit einer Chemikalie, die Jean-Baptiste angeblich hatte erblinden lassen. Doch das war eine Lüge gewesen. Zwei Wachmänner in der Polunsky Unit – dem Todestrakt des Gefängnisses – hatten diesen Irrtum mit dem Leben bezahlt, denn Jean-Baptiste hatte sie gegen eine Betonmauer gestoßen und ihnen die Kehle zugedrückt. Im Frühjahr 2003 war Jean-Baptiste, bekleidet mit einer Uniform mit Namensschild und den Autoschlüssel eines der ermordeten Wachleute in der Tasche, einfach aus seiner Zelle spaziert.
»Kein Schössling, sondern ein Anhängsel«, sagte Lanier gerade zu Berger. Die beiden waren häufig nicht einer Meinung, aber Benton hatte nur mit halbem Ohr zugehört.
Gerade war eine weitere E-Mail von Marino eingegangen:
unterwegs zum dna gbd um lucy und doc zu treffen
»Wenn wir die Bilder haben, wird es klarer. Ich stimme Benton zu. Aber Jerome ist nicht gewalttätig«, sagte Lanier. »Er hat noch nie ein Gewaltverbrechen begangen und lehnt Gewaltsogar ab, weshalb er auch desertiert ist. Zum Militär ist er nur deshalb, weil er keine Arbeit finden konnte. Und als sich dann eine illegale Möglichkeit auftat, hat er sich aus dem Staub gemacht.«
Benton beantwortete Marinos Mail:
Warum?
Inzwischen sprach Lanier weiter. »Die Fangarme der Chandonnes erstrecken sich bis nach Detroit, Louisiana, Las Vegas, Miami, Paris und Monte Carlo. Hafenstädte. Städte, in denen es Casinos gibt. Vielleicht sogar nach Hollywood. Alle Branchen eben, die für das organisierte Verbrechen interessant sind.«
»Den Vater haben wir ausgeschaltet«, erinnerte Benton die anderen Anwesenden. »Ebenso wie Jean-Baptistes Bruder. Diesen faulen Apfel haben wir 2003 beseitigt. Allerdings sind wir nicht bis zum Kern vorgedrungen. Doch es hat sich einiges verändert.«
Eine neue Mail von Marino:
toni dariens uhr
»Wir reden hier von einem Triebtäter, einem Mann, der viel zu zwanghaft und impulsiv ist, um erfolgreich ein Kartell zu leiten und eine so komplizierte Organisation wie dieses fast einhundert Jahre alte Familienunternehmen zu führen. Deshalb müssen wir anders an die Sache herangehen, als wir es sonst beim organisierten Verbrechen tun. Wir sollten sie eher behandeln wie einen Fall von sexuell motiviertem Serienmord.«
»Die Bombe war scharf«, sagte Berger zu Lanier, als hätte Benton kein Wort von sich gegeben. »Kay hätte schwer verletzt oder sogar getötet werden können. Wie kommen Sie also dazu, den Burschen als nicht gewalttätig einzustufen?«
»Sie haben mich missverstanden«, entgegnete Lanier. »Ich sprach von seinen Absichten. Außerdem war Wild nur der Bote und hat vielleicht gar nicht gewusst, was sich in dem Paket von FedEx befand.«
»Das Paket und die Vorgehensweise dieses Kerls. Während all der Banküberfälle hat er nie Gewalt angewendet, sondern ist feige im Auto geblieben. Sogar die Pistole ist ein Fake«, ergänzte Stockman, während er weiter auf einem Flachbildschirm an dem Entscheidungsbaum – dem Entscheidungswald, wie er es nannte – arbeitete. »Ich muss Marty zustimmen, dass er und Granny ... diese Dodie also – sorry, bei mir heißt sie jetzt schon seit einem halben Jahr Granny – nichts weiter als Befehlsempfänger sind.«
»Dodie Hodge würde nie nach der Pfeife anderer Leute tanzen«, wandte Benton ein. »Sie macht mit, wenn sie sich Vorteile davon verspricht oder Spaß daran
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