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Lamento

Titel: Lamento Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Prolog
     
     
     
     
     
    Wie lange er sich schon hier festklammerte, wusste er nicht. Jedenfalls lange genug, um seine Beine in dem eiskalten Wasser nicht mehr spüren zu können. Lange genug, um Mühe zu haben, den Kopf über Wasser zu halten. Das unheimliche Heulen der Hunde irgendwo in der Ferne beschleunigte seinen Herzschlag.
    Er schloss die Augen, konzentrierte sich darauf, den Halt an der zerklüfteten Mauer des alten Brunnens nicht zu verlieren, und befahl seinem Herzen, langsamer zu schlagen.
Hier drin können sie dich nicht riechen. Sie werden deine Spur im Bach verlieren, und hier werden sie dich niemals finden.
    Die eisige Berührung des Wassers kroch weiter seinen Nacken hinauf. Er klammerte sich fester an die rauhen Steine und blickte mit einem erschöpften Seufzer in den klaren Nachthimmel auf. Wie lange schon? So lange, wie er sich erinnern konnte. Draußen verklang das Geheul; die Hunde hatten die Spur verloren.
    Lasst mich einfach in Ruhe. Habe ich noch nicht teuer genug bezahlt?
Er betete darum,
sie
mögen dorthin zurückkehren, woher
sie
kamen, doch er erwartete keine Antwort. Gottes Aufmerksamkeit galt jenen, die eine Seele hatten, etwas, das ihm seit tausend Jahren oder gar noch länger fehlte. Er schluckte. Tief in seiner Brust spürte er das zarte, eigenartige Rascheln, das bedeutete, dass
sie
das Käfigzimmer betreten hatten. Er tauchte die Hand ins Wasser und zog zwei rostige alte Nägel aus der Tasche, die er gut festhielt. Nur nicht schreien. Mehr brauchte er nicht zu tun. Er würde es schaffen.
    Irgendwo in einer kleinen runden, grauen Kammer aus Stein und Moos, so weich wie das Fell eines Fuchswelpen, flatterte eine Taube wild in einem Käfig aus haarfeinen Drähten. Flügel klatschten gegen das Gitter, winzige Krallen rutschten über die Stange und suchten Halt an den dünnen Drähten. Sie gebärdete sich nicht so wild, um die Freiheit zu erlangen – der Käfig hatte keine Tür –, sondern aus Angst. Dies war die schlimmste Art von Angst, Angst ohne jede Hoffnung, die das Herz des Vogels rasen ließen, bis es seine Brust zu sprengen drohte.
    Schlanke Hände ergriffen die helle Taube, die nun zitternd am Boden des Käfigs kauerte, und hielten den Vogel einer hellen Dame hin, die in dieser grünlich-grauen Kammer eigentümlich golden wirkte.
    Als sie sprach, erhellte ihre Stimme die Kammer, so schön, dass sie einen zu Tränen rühren konnte. »Den Flügel«, sagte sie leise und hielt eine Kerze hoch. Sacht breiteten die schlanken Finger einen Flügel der Taube aus und hielten den reglosen Vogel der Dame hin. Die Kerze in ihrer Hand spiegelte die Farben der Sonne im Auge der Taube wider.
    Die Dame lächelte dünn und hielt die blasse Flamme unter den Flügel des Vogels.
    Der Junge im Brunnenschacht erschauerte. Er biss sich aufdie Lippen, presste die Stirn gegen die Arme und befahl sich, still zu sein. Der Schmerz zehrte und brannte sich in seine Brust und umklammerte sein Herz wie eine lodernde Faust. So plötzlich, wie er begonnen hatte, ließ der Schmerz nach, und der Junge schnappte lautlos nach Luft.
    Die Dame in der grünen Kammer hob die Kerze neben ihr Gesicht und beleuchtete ihre eigene Schönheit; eine Schönheit, die beim Anblick eines perfekten Sommertages verächtlich spottete, dass man sie mit demselben Wort beschrieb. »Er wählt stets den steinigen Weg, nicht wahr?« Die Taube begann verzweifelt zu zappeln, als sie ihre Stimme hörte. Diesmal hielt die Dame die Kerze dichter heran, und die Flammen erfassten die Federn, die sich kräuselten und schwarz färbten wie Papier. Die Taube erstarrte, den Schnabel in stummer Qual aufgerissen, den leeren Blick an die Decke geheftet.
    Im Brunnen schnappte der Junge erneut nach Luft, hörbar diesmal, und ermahnte sich, den Kopf über Wasser zu halten. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und als er die Augen so fest zukniff, wie er nur konnte, hörte es vollends auf zu schlagen. Er fühlte sich seltsam hohl und glitt lautlos unter Wasser. Die Finger waren erschlafft, und die Nägel, die er in der Hand gehalten hatte, verschwanden langsam trudelnd in der Finsternis unter ihm.
    Es riss ihm den Kopf zurück, als er mit unmenschlich starkem Griff im Nacken gepackt, hinausgezerrt und auf den nach Klee duftenden Boden geschleudert wurde. Wasser rann ihm aus dem Mund.
    »Noch sollst du nicht sterben, alter Freund.« Der Jäger blickte auf ihn herab, weder zornig noch erfreut über seine Beute. Die Jagd war vorüber, und damit auch

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