Scarpetta Factor
herrenlose Stück einfach dem glücklichen Finder zu überlassen. Ein World Cat 290 mit einem Zwillingsmotor von Suzuki, gestrandet mitten in Sand und Kies – Marino hätte sich freiwillig durch einen Hagel aus Kugeln und Schrapnellen gekämpft, wenn er das Boot anschließend hätte behalten dürfen.
Die Bombenexpertin Ann Droiden war schon da. Sie trug einen Kampfanzug aus dunkelblauem Leinen. Die Hose mit den sieben Taschen war wegen des Wetters mit Flanell gefüttert. Dazu hatte sie einen Parka und Kampfstiefel an. Auf ihrer Nase saß eine bernsteingelbe Brille, die das ganze Gesicht umschloss. Auf eine Mütze hatte sie verzichtet, und auch ihre Hände waren nackt, als sie die Stahlröhre eines PAN-Disruptors an einem Stativ befestigte. Sie war eine Augenweide, allerdings wahrscheinlich zu jung für Marino. Er schätzte sie auf Anfang dreißig.
»Benehmen Sie sich«, meinte Lobo.
»Man sollte die Frau als Massenvernichtungswaffe einstufen«, entgegnete Marino, dem es wie immer schwerfiel, sie nicht unverhohlen anzugaffen.
Ihre markanten, ebenmäßigen Züge und die erstaunlich geschickten Hände hatten etwas an sich, und Marino wurde klar, dass sie ihn ein wenig daran erinnerte, wie Scarpetta in diesem Alter gewesen war. Damals hatte ihre Zusammenarbeit in Richmond begonnen, in einer Zeit, als es noch unerhört war, dass eine Frau die gut ausgebaute Gerichtsmedizin eines Bundesstaates wie Virginia leitete. Außerdem hatte Marino vor Scarpetta noch nie einen weiblichen Gerichtsmediziner zu Gesicht bekommen.
»Der Anruf bei CNN ist aus dem Hotel Elysée gekommen. Das war nur so eine Idee von mir, auch wenn sie weit hergeholt klingt. Immerhin ist diese Dame schon über fünfzig.« Lobo kehrte zu dem Thema zurück, das sie bereits im Auto erörtert hatten.
»Was hat Dodie Hodges Alter mit ihrem Anruf zu tun?«, fragte Marino. Er war nicht sicher, ob es richtig gewesen war, Lucy und Scarpetta im Hotel Elysée allein zu lassen.
Hinzu kam, dass er nicht begriff, was dort gespielt wurde. Er wusste nur, dass Lucy sehr wohl auf sich selbst aufpassen konnte, und zwar, wenn er ehrlich mit sich war, vermutlich besser als Marino. Sie war in der Lage, aus fünfzig Meter Entfernung einen Lutscher vom Stiel zu schießen. Allerdings verstand er die Hintergründe nicht, sosehr er sich auch das Hirn zermarterte. Laut Lobo war der gestrige Anruf bei CNN zum Hotel Elysée zurückverfolgt worden. Das bestätigte zumindest die Rufnummernanzeige. Jedoch war Dodie Hodge nicht Gast im Hotel. Derselbe Portier, mit dem Marino schon zuvor gesprochen hatte, bestätigte, niemand dieses Namens habe sich dort eingemietet. Auch als Marino Dodie anhand der Informationen aus dem Real Time Crime Center beschrieb, hatte der Portier es weiterhin vehement abgestritten. Er habe keine Ahnung, wer Dodie Hodge sei. Außerdem sei vom Hotel Elysée aus am gestrigen Abend kein Anruf an die gebührenfreie Nummer des Crispin Report ergangen. Genau genommen habe um die fragliche Zeit – also um einundzwanzig Uhr dreiundvierzig –, als Dodie bei CNN angerufen hatte und zunächst auf Warteschleife gelegt worden war, überhaupt niemand vom Hotel Elysée aus telefoniert.
»Kennen Sie sich mit Rufnummernunterdrückung aus?«, erkundigte sich Lobo, während er und Marino weitergingen. »Wissen Sie, dass man sogenannte SpoofCards kaufen kann, um die eigene Rufnummer zu anonymisieren?«
»Hab davon gehört. Noch so eine gottverdammte Scheiße, die uns das Leben schwer macht«, erwiderte Marino.
Auf dem Gelände durfte er weder sein Mobiltelefon noch sonst etwas benutzen, was ein elektronisches Signal auslöste. Dabei wollte er unbedingt mit Scarpetta sprechen, um ihr von Dodie Hodge zu erzählen. Oder vielleicht war es besser, Lucy zu informieren. Möglicherweise hatte Dodie Hodge in Verbindung mit Warner Agee gestanden. Aber er konnte nicht telefonieren, nicht hier auf dem Bombenentschärfungsplatz, wo mindestens eine mögliche Bombe in einem Sicherheitskoffer wartete.
»Das können Sie laut sagen«, meinte Lobo, während sie ihren Weg fortsetzten. Vom Sound wehte ihnen ein eisiger Wind entgegen, der durch den Zaun und zwischen den Wällen hindurchpfiff. »Man besorgt sich eine dieser völlig legalen SpoofCards und kann dann jede beliebige Nummer in der Rufnummernanzeige des Menschen erscheinen lassen, den man reinlegen will.«
Marino überlegte: Wenn Dodie Hodge, die am gestrigen Abend im Studio angerufen hatte, Kontakt mit Warner Agee unterhielt, der
Weitere Kostenlose Bücher