Scarpetta Factor
berichtete Scarpetta. »Der Zusammenhang zwischen kreativer und künstlerischer Begabung und PSI. Eine Studie fand im Juilliard hier in New York statt, andere Forschungsprojekte an der Duke University, in Cornell und in Princeton. Das Ganzfeld-Experiment.«
»Übernatürliche Phänomene? ESP?« Verständnislosigkeit malte sich auf Lucys Gesicht.
Scarpetta sah sie an. »Reizarmut. Aus welchem Grund könnte jemand einen Zustand der Reizarmut erreichen wollen?«
»Weil er umgekehrt proportional zur Aufmerksamkeit und zur Aufnahme von Informationen ist«, erwiderte Lucy. »Je mehr ich mich Reizen entziehe, desto stärker nehme ich wahr und werde kreativ. Deshalb meditieren manche Leute.«
»Und weshalb sollte jemand das Gegenteil herbeiführen? Also eine Reizüberflutung?«, fragte Scarpetta.
»Das wäre nicht sehr sinnvoll.«
»Außer man ist in der Casinobranche«, antwortete Scarpetta. »Dann sucht man nach dem besten Weg, Menschen mit Reizen zu überfordern, um sie am Nachdenken zu hindern. Man möchte, dass sich die Leute von ihren Impulsen leiten lassen und ihren Verstand ausschalten. Deshalb setzt man sie einer Umgebung aus, in der sie mit optischen und akustischen Reizen bombardiert werden, und zwar von allen Seiten, also im Ganzfeld. Auf diese Weise verwandelt man seine Kundschaft in eine verwirrte Herde, die nicht mehr in der Lage ist, eine Gefahr zu erkennen. Man blendet sie mit grellen Lichtern und hindert sie durch Lärm am Hören, damit man ihnen das Geld aus der Tasche ziehen kann. Um sie zu bestehlen.«
Immer wieder fiel Scarpetta Toni Darien ein, die in einem funkelnden Umfeld, geprägt von blitzenden Lichtern und sich schnell bewegenden Bildern auf riesigen Videowänden, gearbeitet hatte. In einem Lokal, in dem die Gäste dazu ermutigt wurden, Geld für Essen, Alkohol und Glücksspiele auszugeben. Ein paar missratene Runden Bowling, und man wollte weiterspielen und weitertrinken. Hap Judds Foto hing im High Roller Lanes. Möglicherweise hatte er Toni gekannt. Oder Bentons ehemalige Patientin Dodie Hodge. Marino hatte es bei der Telefonkonferenz am gestrigen Abend gegenüber Berger erwähnt. Vielleicht war Warner Agee ja mit Toni Dariens Chef Freddie Maestro befreundet gewesen. Es konnte durchaus sein, dass zwischen all diesen Personen eine Verbindung bestand. Inzwischen war es kurz vor neun Uhr morgens. Rings um Scarpetta stapelten sich Quittungen, benutzte Tickets, Veranstaltungskalender und Veröffentlichungen – die Trümmer von Agees eigennützigem und irregeleitetem Leben. Der herzlose Mistkerl! Sie stand vom Boden auf.
»Wir müssen los«, sagte sie zu Lucy. »Ins DNA-Gebäude, und zwar sofort.«
Auf den Bildschirmen im SAC-Konferenzraum waren Aufnahmen aus einer Überwachungskamera zu sehen, die eine Frau und einen Mann zeigten. Seit dem letzten Juni hatte dieses freche Gaunerpärchen, das beim FBI mittlerweile Granny und Clyde genannt wurde, mindestens neunzehn Banken überfallen.
»Kannst du alles lesen?« Jaime Berger drehte ihr MacBook so, dass Benton freie Sicht auf den Bildschirm hatte, wo eine gerade abgeschickte E-Mail erschien.
Benton nickte. Er wusste bereits Bescheid, denn er hatte die eingehenden Nachrichten auf seinem BlackBerry geöffnet. Es handelte sich um dieselben E-Mails, die Lucy und Marino auch an Berger gesendet hatten, sodass die vier beinahe in Echtzeit miteinander kommunizierten. Die Paketbombe war tatsächlich gefährlich gewesen. Das daraus sichergestellte Stimmmodul war von derselben Bauart wie das in Dodie Hodges singender Karte. Allerdings glaubte Benton nicht mehr, dass die Idee zu der Karte tatsächlich von Dodie stammte. Sie mochte das Lied aufgenommen und die Adresse auf den Lieferschein geschrieben haben, doch Benton bezweifelte, dass sie die Verfasserin des böswilligen Weihnachtsliedchens war. Sie war nicht der Kopf hinter den bisherigen Ereignissen. Und auch nicht die Initiatorin des Anrufs bei CNN mit dem Zweck, Benton in Sorge zu versetzen und ihn zu warnen, bevor die Bombe platzte. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Dodie liebte das Dramatische, nur dass das hier nicht ihr Stück, nicht ihre Vorstellung war, denn sie hatte andere Methoden. Benton war überzeugt, die Handschrift zu kennen. Eigentlich hätte er schon früher dahinterkommen müssen, aber er hatte nicht richtig hingesehen. Er hatte die Suche aufgegeben, weil er sie inzwischen für überflüssig gehalten hatte, und sein Radar abgeschaltet. Nun war das Ungeheuer zurück, in einer
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