Scarpetta Factor
vereinfacht. Die Wurzeln sind tief, die Äste verschlungen und ziemlich ausladend. Deshalb ist es unverzichtbar, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Wollen Sie ein Beispiel hören? Nehmen wir den Bankraub am 1. August dieses Jahres in der Bronx. Die Filiale von American Union wurde an einem Freitagmorgen um zwanzig nach elf überfallen.« Er konsultierte seine Aufzeichnungen. »Nur eine knappe Stunde später handelte sich Dodie Hodge in einem städtischen Bus an der Kreuzung Southern Boulevard und East Hundred Forty-ninth eine Vorladung der Bußgeldstelle der Verkehrsbetriebe ein. Mit anderen Worten, sie war in der Nähe, nur wenige Häuserblocks von der überfallenen Bank entfernt. Sie verhielt sich überdreht und hat einen Streit vom Zaun gebrochen.«
»Von einer Vorladung der Bußgeldstelle weiß ich nichts«, meinte Detective Jim O’Dell vom NYPD. Er war Anfang vierzig, hatte schütteres rotes Haar und einen kleinen Bauch.
Er saß neben seinem Partner bei der Einsatzgruppe Bankraub, Andy Stockman, Special Agent beim FBI. Stockman war Ende dreißig, gertenschlank und hatte dichtes schwarzes Haar.
»Das haben wir bei einer Durchsuchung der Datenbank gefunden, als wir alle Zwischenfälle überprüften, bei denen FedEx eine Rolle spielt«, erklärte Benton O’Dell. »Als Dodie von einem Polizisten zur Rede gestellt wurde, weil sie im Bus eine Szene machte, antwortete sie ihm, er solle seinen Arsch doch per FedEx zur Hölle schicken, am besten mit Eilzustellung über Nacht. RTCC hat die Verbindung hergestellt.«
»So einen seltsamen Spruch habe ich noch nie gehört«, bemerkte Stockman.
»Vielleicht verschickt sie gern Dinge per FedEx, weil sie immer in Eile ist und schnell Ergebnisse ihrer Inszenierungen sehen will. Keine Ahnung«, erwiderte Benton ungeduldig, weil Dodies Marotten und ihre Exaltiertheit hier keine Rolle spielten und ihn allein der Gedanke an sie auf die Palme brachte. »Viel wichtiger ist ein Muster, auf das Sie im Verlauf dieses Gesprächs immer wieder stoßen werden. Impulsivität. Ein Anführer, ein Gangsterboss, der zwanghaft und unberechenbar ist und inneren Trieben gehorcht, die er nicht im Griff hat. Die Leute, mit denen er sich umgibt, sind auch nicht viel besser. Gegensätze ziehen sich nicht immer an. Manchmal sind es auch Gemeinsamkeiten.«
»Gleich und Gleich gesellt sich gern«, merkte Lanier an. »Bei Jean-Baptiste könnte das zutreffen«, antwortete Benton. »Ja.«
»Wir brauchen eine Datenwand, wie die eine haben«, wandte sich O’Dell an Berger, als ob sie die Möglichkeit gehabt hätte, Abhilfe zu schaffen.
»Viel Glück.« Stockman griff nach seiner Kaffeetasse. »Wir hier oben müssen sogar das Mineralwasser selbst bezahlen.«
»Es wäre wirklich nützlich, die Verbindungen optisch darzustellen«, beharrte Benton. »Insbesondere deshalb, weil die Zusammenhänge so komplex sind. Schließlich haben die Verbrechen nicht erst im letzten Juni angefangen, sondern bereits vor den Anschlägen vom 11. September, oder besser: vor mehr als einem Jahrzehnt. Das gilt zumindest für meine Beteiligung an den Ermittlungen. Dabei geht es nicht nur um die Banküberfälle, sondern um die Familie Chandonne und das gewaltige Verbrechernetzwerk, das sie früher unterhalten hat.«
»Was meinen Sie mit ›früher‹?«, hakte O’Dell nach. »Wenn meine Informationen stimmen, erfreuen sich die Chandonnes bester Gesundheit.«
»Sie sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Vermutlich werden Sie das nicht verstehen. Sagen wir einfach, die Situation hat sich verändert«, entgegnete Benton. »So etwas passiert eben, wenn ein fauler Apfel das Familienunternehmen erbt und es gegen die Wand fährt.«
»Klingt wie die letzten acht Jahre im Weißen Haus«, witzelte O’Dell.
»Die Chandonnes haben heute nicht annähernd so viel Macht wie damals.« Benton war heute Morgen nicht zum Scherzen aufgelegt. »Ihr Imperium zerfällt, das Chaos ist ausgebrochen, und Jean-Baptiste sitzt am Steuer. Für seine Geschichte gibt es nur ein mögliches Ende, ganz gleich, wie oft er sie auch erzählen und in wie viele Rollen er schlüpfen mag. Er schafft es, eine Weile am Ball zu bleiben, und vielleicht ist es ihm trotz seiner nicht zu unterdrückenden Zwangsgedanken bis jetzt gelungen. Doch legen werden sie sich nie. Nicht bei ihm, weshalb das Ergebnis vorhersehbar ist. Irgendwann gewinnen seine Zwänge die Oberhand. Erst weicht er ein bisschen vom rechten Weg ab, dann ein Stückchen mehr, und schließlich
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