Scarpetta Factor
Zeit dort viele Filme gedreht. Der Bundesstaat tat sein Möglichstes, um Geld in die ausblutende Wirtschaft zu pumpen. Vierzig Prozent Steuernachlass. Und Casinos. In Michigan gab es eine Fachschule für angehende Croupiers. Die Schulgebühren wurden zum Teil von verschiedenen Organisationen wie dem Bund der Kriegsveteranen und den Gewerkschaften der Stahlarbeiter und Automobilarbeiter übernommen. Wer aus dem Irak nach Hause kam oder seine Stelle bei General Motors verlor, konnte also immer noch Croupier am Blackjacktisch werden.
»Ich habe Mist gebaut. Rupe ist letzten Mai gestorben, und Hannah war seine Alleinerbin. Sie hat seine Geschäfte übernommen. Ich will nicht behaupten, dass sie dumm ist, immerhin hat sie in Wharton Betriebswirtschaft studiert«, fuhr Lucy fort.
»Also hat sie sich um die Verwaltung deiner Finanzen gekümmert?«
»Das war zumindest ihr Plan.«
In diesen Zeiten musste man zu allem bereit sein, um zu überleben, und mit Lastern und Unterhaltung verdiente man eben nach wie vor am besten. In der Filmbranche. Der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie, insbesondere mit Alkohol. Wenn Menschen sich elend fühlten, versuchten sie aktiv, diesen Zustand zu ändern. Wo war der Zusammenhang mit Warner Agee? In was war er hineingeraten? Scarpetta dachte an Toni Dariens Schlüsselanhänger mit den Würfeln und daran, dass Bonnell das High Roller Lanes als eine Art Las Vegas bezeichnet hatte. Mrs. Darien hatte gesagt, Toni habe irgendwann in Paris oder in Monte Carlo leben wollen. Lawrence Darien, ihr Vater mit Abschluss am MIT, war ein Spieler und unterhielt laut Marino möglicherweise Kontakte zum organisierten Verbrechen. Nun fiel Scarpetta ein, wer Freddie Maestro war: der Besitzer des High Roller Lanes. Außerdem betrieb er Spielhallen und war der Eigentümer verschiedener anderer Firmen in Detroit, Louisiana, Südflorida und einigen anderen Bundesstaaten, die sie jedoch vergessen hatte. Also war er Toni Dariens Chef gewesen. Vielleicht kannte er ja ihren Vater.
»Wir haben uns einige Male getroffen. Dann haben wir ein Gespräch in ihrer Wohnung in Florida geführt, und ich habe abgelehnt«, fügte Lucy hinzu. »Allerdings war ich so unvorsichtig, einen Tipp von ihr anzunehmen. Der Kugel konnte ich zwar ausweichen, habe aber dafür ein Messer in den Rücken gekriegt. Weil ich nicht auf meinen Instinkt gehört habe, hat sie es geschafft, mich ordentlich über den Tisch zu ziehen.«
»Bist du pleite?«, erkundigte sich Scarpetta.
Sie googelte Dr. Warner Agee in Verbindung mit einigen anderen Suchbegriffen: Glücksspiel. Casinos. Glücksspielindustrie. Michigan.
»Nein«, erwiderte Lucy. »Wie viel mir geblieben ist, spielt keine Rolle. Es ist nicht einmal wichtig, welche Summe ich verloren habe. Es geht nur darum, dass sie mir aus reinem Mutwillen geschadet hat.«
»Wie kann es sein, dass Jaime nicht darüber informiert ist, wenn sie so gründlich in diesem Fall ermittelt?«
»Wer führt denn die tatsächlichen Ermittlungen durch, Tante Kay? Sie ganz bestimmt nicht. Zumindest nicht, was den elektronischen Bereich betrifft. Diese Informationen hat sie von mir.«
»Also ahnt sie nicht, dass du Hannah kennst und deshalb ein Interessenkonflikt besteht. Denn genau das ist es«, stellte Scarpetta fest, während sie weitere Faltordner durchblätterte.
»Sie würde mich sofort von dem Fall abziehen, was für sie nur von Nachteil und deshalb der absolute Schwachsinn wäre«, entgegnete Lucy. »Ich bin die Einzige, die ihr helfen kann. Außerdem war ich nicht Hannahs Klientin, sondern Rupes. Und weißt du, was in seinen Unterlagen steht? Wir wollen es einmal so ausdrücken: Es wird nichts auftauchen, was auf Hannahs Spielchen hinweist. Dafür habe ich gesorgt.«
»Das ist nicht richtig«, widersprach Scarpetta.
»Was sie getan hat, war auch nicht richtig.«
Ein Artikel, den Agee vor zwei Jahren in der britischen Zeitschrift Quantum Mechanics veröffentlicht hatte: Quanten epistemologie und Maße. Planck, Bohr, de Broglie, Einstein. Die Rolle des menschlichen Bewusstseins beim Zusammenbruch der Wellenfunktion. Störungen durch einzelne Photonen und Verstöße gegen das Kausalitätsprinzip in der Thermodynamik. Die Nicht-Fassbarkeit des menschlichen Bewusstseins.
»Was zum Teufel liest du denn da?«, fragte Lucy.
»Ich bin nicht sicher.«
Scarpetta blätterte weiter, überflog ein paar Seiten, las und hielt an einigen Stellen inne.
»Studenten wurden für verschiedene Studien angeworben«,
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