Scarpetta Factor
Aufnahmen davon schicken«, verkündete Geffner, aber Scarpetta hörte nur mit halbem Ohr hin. »Pollen, von Insekten angefressene Haarfragmente, Insektenkot und natürlich Staubmilben. Sie hatte ziemlich große Mengen davon am ganzen Körper, und ich bezweifle, dass sie aus dem Central Park stammen. Vielleicht aus dem Transportfahrzeug oder von einem anderen ziemlich staubigen Ort.«
Tabellen strömten über den Bildschirm. Die Aktivitätsgraphik zeigte starke Ausschläge. Ein stetes Rütteln, alle fünfzehn Sekunden, Minute für Minute. Jemand machte sich, immer wieder im gleichen Rhythmus, an ihr zu schaffen.
»... Das sind mikroskopisch kleine Spinnentiere, wie ich sie in einem alten Teppich oder einem sehr staubigen Raum massenweise erwarten würde. Staubmilben gehen ein, wenn sie nichts Essbares, zum Beispiel abgeschilferte Hautschuppen, erhalten, die in einem Haus ihre wichtigste Nahrungsquelle sind ... «
Sechzehn Uhr neunundzwanzig bei Toni Darien. Sauerstoffgehalt im Blut dreiundneunzig Prozent, Herzfrequenz neunundvierzig Schläge pro Minute. Die Hypoxie setzte ein, was einen Sauerstoffmangel im Gehirn zur Folge hatte, während dieses wegen der tödlichen Verletzung anschwoll und blutete. Immer noch Ausschläge in der Aktivitätsgraphik. Die rhythmischen Bewegungen ihres Körpers wurden durch ein vorhersehbares Muster aus Wellen und Linien angezeigt, und zwar über einen längeren Zeitraum hinweg, gemessen in Sekunden und Minuten.
»... mit anderen Worten: Hausstaub ...«
»Vielen Dank«, meinte Scarpetta zu Geffner. »Aber ich muss jetzt Schluss machen.« Sie beendete das Telefonat.
Es war still im Ausbildungslabor. Auf zwei großen Flachbildschirmen liefen Graphiken, Tabellen und Karten vorbei. Gebannt beobachtete Scarpetta, wie sich die rhythmischen Bewegungen fortsetzen, nur dass sie sich inzwischen verändert hatten. Sie erfolgten nun ruckartig und wurden manchmal heftiger. Dann ein Innehalten, gefolgt von weiteren Zuckungen. Um siebzehn Uhr hatte der Sauerstoffgehalt von Toni Dariens Blut neunundsiebzig Prozent betragen. Ihre Herzfrequenz belief sich auf neununddreißig Schläge pro Minute. Sie lag im Koma. Eine Minute später verwandelte sich die Aktivitätsgraphik in eine gerade Linie, denn die Bewegung hatte aufgehört. Auch nach vier Minuten regte sich immer noch nichts, und die Lichtverhältnisse sanken plötzlich von dreihundert Lux auf nahezu null. Jemand hatte das Licht ausgemacht. Um siebzehn Uhr vierzehn war Toni Darien in der Dunkelheit gestorben.
Lucy öffnete den Kofferraum von Marinos Auto, während Benton und eine Frau aus einem schwarzen SUV stiegen und über die Park Avenue hasteten. Es war nach fünf, stockdunkel und kalt. Ein böiger Wind peitschte die Flagge über dem Eingang der Villa Starr.
»Habt ihr etwas gesehen?«, fragte Benton und schlug den Mantelkragen hoch.
»Wir sind ums Haus herumgeschlichen und haben versucht, in die Fenster zu schauen, um festzustellen, ob sich da drinnen was regt. Aber Fehlanzeige«, antwortete Marino. »Lucy vermutet einen Verzerrer. Ich finde, wir sollten einfach reinstürmen und nicht auf das Sondereinsatzkommando warten.«
»Warum?«, wollte die Frau, ein dunkler Schatten, von Lucy wissen.
»Kenne ich Sie?« Lucy war nervös und ängstlich und deshalb patzig.
»Marty Lanier, FBI.«
»Ich war schon öfter in diesem Haus«, entgegnete Lucy, öffnete eine Tasche und zog eine Schublade des von Marino eingebauten Kofferraumsafes auf. »Rupe verabscheute Mobiltelefone und duldete sie nicht in seinem Zuhause.«
»Industriespionage ... «, setzte Lanier an.
»Er konnte sie einfach nicht leiden, weil er die ständige Telefoniererei unhöflich fand«, fiel Lucy ihr ins Wort. »Wer im Haus sein eigenes Telefon benutzen oder sich damit ins Internet einloggen wollte, bekam keinen Empfang. Er hat keine Industriespionage betrieben, sondern eher befürchtet, andere könnten es tun.«
»Wahrscheinlich wimmelt dieses Haus nur so von Funklöchern«, stellte Benton fest und betrachtete das Sandsteingebäude mit den hohen Fenstern und den schmiedeeisernen Balkonen, das Lucy an die hötels particuliers erinnerte, die riesigen Prunkvillen im Herzen von Paris, wo sich auch die Isle Saint-Louis befand.
Sie kannte das Flötel Chandonne , Sitz des verderbten Adelsgeschlechts, von dem Jean-Baptiste abstammte. Die Villa der Starrs war in Baustil und Größe recht ähnlich. Bonnell und Berger hielten sich irgendwo in diesem Haus auf, und Lucy würde
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