Scarpetta Factor
eindeutiger Hinweis auf Kohlenwasserstoff. Die elektronische Nase war zufrieden. Sie hatte einen gesättigten Kohlenwasserstoff erkannt und die Prüfung bestanden. Der nächste Auftrag würde ein trauriger sein.
Scarpetta ging von einer einfachen Voraussetzung aus. Offenbar war Toni Darien in der Villa Starr ermordet worden. Nun lautete die Frage, ob auch noch weitere Opfer außer Toni ins Haus gelockt worden waren, und wenn ja, in welchen Teil des Gebäudes. Scarpetta nahm an, dass Toni sich in einem der Kellergeschosse aufgehalten hatte, und zwar aufgrund der Temperaturmessungen des BioGraph und der Obduktionsergebnisse, die darauf hinwiesen, dass die Leiche an einem kühlen Ort und nicht im Freien aufbewahrt worden war. Wo immer die Tote auch gelegen hatte, hatte sie Moleküle von Chemikalien und anderen Substanzen hinterlassen, Gerüche, die die menschliche Nase nicht wahrnehmen konnte. Vielleicht aber der LABRADOR. Scarpetta schaltete das Gerät ab, packte es in eine schwarze Nylontasche und löschte die beweglichen Scheinwerfer an der Decke, die sie an ein Fernsehstudio und damit an Carley Crispin erinnerten. Dann zog sie ihren Mantel an, verließ das Labor und ging, ein verglastes Treppenhaus hinunter, aus dem Gebäude. Inzwischen war es kurz vor acht Uhr abends. Der Garten mit seinen unbenutzten Granitbänken war menschenleer, windig und dunkel.
An der First Avenue bog sie rechts ab und folgte dem Gehweg, vorbei am Klinikum Bellevue, zurück zu ihrem Büro, wo sie sich mit Benton verabredet hatte. Da der Haupteingang des Gebäudes mittlerweile geschlossen war, bog sie an der Thirtieth Street erneut rechts ab. Sie stellte fest, dass aus dem offenen Rolltor einer Zufahrt Licht auf die Straße fiel. Drinnen stand ein weißer Transporter mit laufendem Motor und offener Heckklappe. Doch es war niemand in Sicht. Mit ihrer Codekarte öffnete Scarpetta die Zwischentür oben an der Rampe und wurde von den vertrauten weißen und petrolgrünen Fliesen empfangen. Musik wehte ihr entgegen. Soft Rock. Offenbar hatte Filene heute Dienst. Aber eigentlich war es gar nicht ihre Art, das Rolltor offen zu lassen.
Scarpetta marschierte an der Bodenwaage vorbei zum Büro der Gerichtsmedizin, ohne jemandem zu begegnen. Der Bürostuhl vor dem Plexiglasfenster war zur Seite gedreht, Filenes Radio stand auf dem Boden. Ihre Jacke mit der Aufschrift OCME SECURITY hing an der Tür. Im nächsten Moment hörte sie Schritte. Ein Wachmann in dunkelblauer Uniform kam von den Umkleiden her auf sie zu. Vermutlich war er auf der Toilette gewesen.
»Das Rolltor ist offen«, sagte Scarpetta. Sie kannte seinen Namen nicht und hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
»Eine Anlieferung«, erwiderte er. Etwas an ihm erschien ihr vertraut.
»Von wo?«
»Eine Frau ist in Harlem von einem Bus überfahren worden.«
Er war schlank, aber kräftig. An seinen bleichen, sehnigen Händen traten die Venen hervor, schwarzer feiner Haarflaum lugte aus seiner Mütze, und seine Augen waren hinter einer grau getönten Brille verborgen. Sein Gesicht war glatt rasiert, und seine Zähne wirkten zu weiß und ebenmäßig. Wahrscheinlich ein Gebiss, obwohl er dafür noch ein wenig jung war. Außerdem machte er einen unruhigen und nervösen Eindruck, was sicher daran lag, dass es ihm unangenehm war, nach Einbruch der Dunkelheit in der Leichenhalle zu arbeiten. Bestimmt eine Aushilfe. Mit der Wirtschaftskrise hatte sich auch die Personalsituation verschlechtert, denn wegen der einschneidenden Mittelkürzungen hatte es sich als praktisch erwiesen, mehr Teilzeitkräfte und Leiharbeiter zu beschäftigen. Hinzu kam, dass derzeit die Grippe unter den Angestellten grassierte. Gedankenbruchstücke schossen Scarpetta durch den Kopf, und sie spürte plötzlich, wie ihre Kopfhaut prickelte und ihr Puls zu rasen begann. Ihr Mund wurde trocken, und sie wollte die Flucht ergreifen. Im nächsten Moment packte der Mann sie am Arm. Ihre Nylontaschen rutschten ihr von der Schulter, als sie sich wehrte. Aber er schleppte sie mit erstaunlicher Kraft zur Einfahrt, wo der weiße Transporter mit offener Heckklappe und laufendem Motor wartete.
In panischer Angst stieß sie wortlose Schreie aus, während sie versuchte, sich zu befreien und das Gewirr von Taschenriemen loszuwerden. Sie trat nach ihm und wollte sich losreißen, doch er öffnete die Tür, durch die sie gerade eingetreten war, mit so viel Schwung, dass sie mit einem Knall, so laut wie ein Hammerschlag, mehrere Male gegen die Wand
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