Scarpetta Factor
einem Patienten, was in letzter Zeit häufig vorkam. Im vergangenen Monat hatte Scarpetta den Eindruck gewonnen, dass er einen Bogen um das McLean machte, die an die Universität Harvard angegliederte psychiatrische Klinik in Belmont, Massachusetts, der Stadt, in der sie wohnten. Außerdem war er ungewöhnlich gereizt und geistesabwesend, als ob ihn etwas wirklich beschäftige. Allerdings schwieg er sich darüber aus, was bedeutete, dass es ihm gesetzlich verboten war, darüber zu reden. Scarpetta wusste, wann man nachfragte und wann man besser den Mund hielt, denn sie hatte sich schon vor langer Zeit daran gewöhnt, dass Benton nur selten über Berufliches sprechen konnte.
Sie führten ein Leben voller Geheimnisse, das an einen zu gleichen Teilen mit Licht und Schatten erfüllten Raum erinnerte. Ihr langer gemeinsamer Weg war von Alleingängen und von Zielen geprägt, die der andere nicht immer kannte. Doch so schwer ihr das auch fallen mochte, in vielerlei Hinsicht litt er noch mehr darunter. Bei Scarpetta gab es nur wenige Situationen, bei denen sie gegen das Standesrecht verstoßen hätte, wenn sie mit ihrem Mann, immerhin forensischer Psychologe, einen Fall erörterte, ihn nach seiner Meinung fragte oder ihn um Rat bat. Aber sie erhielt nur selten Gelegenheit, sich zu revanchieren, denn Bentons Patienten waren am Leben – im Gegensatz zu denen von Scarpetta – und genossen deshalb bestimmte Rechte und Privilegien. Wenn der Betreffende keine Gefahr für sich und andere darstellte oder rechtskräftig verurteilt worden war, konnte sich Benton nicht mit Scarpetta austauschen, ohne die ärztliche Schweigepflicht zu verletzen.
»Wir müssen uns überlegen, wann wir wieder nach Hause fliegen«, wandte Benton sich dem Thema Feiertage und ihrem Leben in Massachusetts zu, das allmählich in immer weitere Ferne rückte. »Justine will wissen, ob sie das Haus schmücken soll. Vielleicht ein paar weiße Lichterketten in die Bäume.«
»Gute Idee. Dann sieht es so aus, als ob jemand zu Hause wäre«, erwiderte Scarpetta, während sie ihre E-Mails las. »Das schreckt Einbrecher ab, denn soweit ich gehört habe, haben Einbruch und Raub zurzeit Hochkonjunktur. Am besten hängen wir die Lichterketten in die Buchsbäume neben der Tür und im Garten.«
»Das klingt, als hättest du sonst nichts geplant.«
»Wenn ich mir anschaue, was hier los ist«, antwortete sie, »kann ich nicht sagen, wo wir in einer Woche sein werden. Ich habe einen wirklich schweren Fall an der Hand, und alle Beteiligten sind zerstritten.«
»Ich werde mich darum kümmern. Lichterketten, um die Einbrecher abzuschrecken. Den Rest können wir uns ja sparen.«
»Ich besorge ein paar Amaryllis für die Wohnung und vielleicht einen kleinen Tannenbaum, der sich später wieder einpflanzen lässt«, meinte sie. »Hoffentlich schaffen wir es, für ein paar Tage nach Hause zu fliegen, falls du das willst.«
»Ich weiß nicht, was ich will. Ob wir einfach beschließen sollten, hierzubleiben? Dann brauchen wir uns keine Gedanken mehr darüber zu machen. Was hältst du davon? Einverstanden? Ist das eine gute Idee? Wir könnten ja ein paar Leute zum Abendessen einladen. Jaime und Lucy. Und Marino. Denke ich.«
»Denkst du.«
»Klar, wenn du möchtest, dass er kommt.«
Benton würde niemals behaupten, dass er Marino gern einlud, denn das wäre nicht wahr gewesen. Warum also Theater spielen?
»Okay«, sagte sie, obwohl ihr die Vorstellung nicht gefiel. »Wir bleiben in New York.« Jetzt, da die Entscheidung getroffen war, hatte sie plötzlich überhaupt keine Lust mehr dazu.
Sie dachte an ihr zweistöckiges Haus aus dem Jahr 1910, ein schlichtes, harmonisches Gebäude aus Holz, verputztem Mauerwerk und Naturstein, das sie täglich daran erinnerte, wie sehr sie den Architekten Frank Lloyd Wright bewunderte. Einen Moment lang vermisste sie ihre große Küche mit der professionellen Ausstattung aus Edelstahl und ihr Schlafzimmer mit den Oberlichtern und den freigelegten Backsteinwänden.
»Egal, ob hier oder dort«, fügte sie hinzu. »Hauptsache, wir sind zusammen.«
»Darf ich dich etwas fragen?«, erwiderte Benton. »Hast du vielleicht irgendwelche ungewöhnliche Post bekommen, wie zum Beispiel eine Grußkarte, die an dein Büro in Massachusetts, an die Gerichtsmedizin hier in New York oder an CNN adressiert war?«
»Eine Grußkarte? Von einer bestimmten Person?«
»Ich wollte nur wissen, ob etwas dabei war, das dich stutzig gemacht hat.«
»Die E-Mails
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