Scarpetta Factor
Angehörigen von Musik oder Liedtexten belästigt wurden, die man als provokativ oder pietätlos auslegen konnte.
»Sagen Sie Mrs. Darien, dass ich gleich bei ihr bin«, wies Scarpetta sie an. »Ich brauche etwa eine Viertelstunde, um etwas nachzuschauen und mir die Formulare anzusehen. Und keine Musik, bis sie wieder weg ist, einverstanden?«
Von der Vorhalle ging der Verwaltungstrakt ab, den Scarpetta mit Dr. Edison, zwei Sekretärinnen und der Personalchefin teilte, die bis nach Silvester auf Hochzeitsreise sein würde. Da das Gebäude ein halbes Jahrhundert alt und ziemlich beengt war, hatte der Platz nicht gereicht, um Scarpetta im zweiten Stock unterzubringen, wo die festangestellten Forensiker ihre Büros hatten. Wenn sie in der Stadt war, benutzte sie deshalb den ehemaligen Konferenzsaal des Chief Medical Examiner im Parterre, mit Blick auf den mit türkisfarbenen Backsteinen eingefassten Eingang des Gerichtsmedizinischen Instituts in der First Avenue. Sie entriegelte die Tür und trat ein. Nachdem sie ihren Mantel aufgehängt und ihren Essenskarton auf den Tisch gestellt hatte, setzte sie sich an den Computer.
Sie ging ins Internet und gab BioGraph in das Suchfeld ein. Am oberen Bildschirmrand erschien eine Frage: Meinten Sie BioGraphy ? Nein, Fehlanzeige. Biograph Records war auch nicht das, was sie interessierte. American Mutoscope and Biograph Company war das älteste Filmstudio in den Vereinigten Staaten, gegründet im Jahr 1895 von einem Erfinder, der für Thomas Edison gearbeitet hatte. Dieser war, ein interessanter Zufall, ein entfernter Verwandter des Chief Medical Examiner. Unter dem Begriff BioGraph mit großem B und großem G war nichts zu finden. Und genau dieses Wort war auf die Rückseite der ungewöhnlichen Uhr eingraviert, die Toni Darien bei ihrer Einlieferung an diesem Morgen am linken Handgelenk getragen hatte.
In Stowe, Vermont, herrschte starker Schneefall. Große, schwere, feuchte Flocken türmten sich auf den Balsamfichten und Tannen. Die Skilifte am Green Mountain waren im Schneesturm nur als kaum auszumachende zarte Linien zu erkennen und standen still. Bei diesem Wetter ging niemand zum Skilaufen. Die Leute verkrochen sich lieber im warmen Haus.
Lucy Farinellis Hubschrauber saß im nahe gelegenen Burlington fest. Zumindest stand er wohlbehalten in einem Hangar, was allerdings hieß, dass sie und die New Yorker Staatsanwältin Jaime Berger in den nächsten fünf Stunden, vielleicht auch noch länger, nirgendwohin fliegen würden. Jedenfalls nicht bis neun Uhr abends, wenn das Unwetter voraussichtlich nach Süden weitergezogen sein würde, sodass die Bedingungen einen Sichtflug möglich machten. Die Wolkendecke würde auf zehntausend Meter steigen, die Sichtweite etwa acht Kilometer betragen und der Wind mit einer Stärke von dreißig Knoten aus Nordosten wehen. Da sie auf dem Rückflug nach New York kräftigen Rückenwind haben würden, konnten sie gerade noch rechtzeitig zurück sein. Doch Berger war schlechter Laune, hatte den ganzen Tag im Nebenzimmer am Telefon verbracht und gab sich keine Mühe, nett zu Lucy zu sein. Für sie sah die Sache so aus, dass sie wegen des Wetters länger hierbleiben mussten als geplant, wofür Lucy als Pilotin die Verantwortung trug. Dass der Wetterbericht sich geirrt hatte, spielte keine Rolle. Zwei kleine Schlechtwetterfronten hatten sich über Saskatchewan in Kanada zu einer großen vereint und sich mit arktischen Luftmassen zu einem heftigen Sturm verquickt.
Lucy drehte die Lautstärke des YouTube-Videos herunter, Mick Fleetwoods Schlagzeugsolo in »World Turning«, ein Live-Konzert aus dem Jahr 1987.
»Kannst du mich jetzt verstehen?«, fragte sie ihre Tante Kay am Telefon. »Der Empfang hier ist miserabel, und das Wetter verschlimmert die Sache noch.«
»Viel besser. Wie läuft es?«, erklang Scarpettas Stimme an Lucys Kieferknochen.
»Bis jetzt nichts gefunden. Was seltsam ist.«
Lucy hatte drei MacBooks eingeschaltet. Jeder Bildschirm war in Quadranten aufgeteilt, die das aktuelle Flugwetter, Datenströme aus dem Absuchen neuraler Netzwerke, Links zu möglicherweise interessanten Websites, den E-Mail-Verkehr von Hannah Starr, Lucys E-Mails und aus Überwachungskameras stammende Aufnahmen des Schauspielers Hap Judd zeigten, und zwar in OP-Kleidung in der Pathologie des Park General Hospital, bevor er berühmt geworden war.
»Bist du sicher, was den Namen angeht?«, fragte sie, während sie die Bildschirme betrachtete und sich von
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