Scarpetta Factor
setzte ihre Brille auf und beugte sich vor, um es sich anzusehen. Sie roch nach Badeöl von Amorvero und war ungeschminkt, doch das hatte sie auch gar nicht nötig. Ihr kurzes dunkles Haar war zerzaust, und sie wirkte in ihrem schwarzen Jogginganzug mit nichts darunter unverschämt sexy. Außerdem war der Reißverschluss des Oberteils nicht zugezogen und gab jede Menge Dekolleté frei – nicht dass das etwas zu bedeuten gehabt hätte. Seit einer Weile wurde Lucy nicht mehr schlau aus ihr, denn sie wirkte ständig, als wäre sie mit ihren Gefühlen ganz weit weg. Am liebsten hätte sie sie in die Arme genommen, um ihr zu zeigen, was sie miteinander verbunden hatte und wie es früher gewesen war.
»Er schaut sich die Website der Body Farm an, und ich bezweifle stark, dass er beabsichtigt, sich umzubringen und seine Leiche der Wissenschaft zu spenden«, fuhr Lucy fort.
»Von wem sprichst du?« Berger las das Formular, das auf dem Bildschirm des MacBooks erschienen war.
Institut für forensische Anthropologie
University of Tennessee, Knoxville
Fragebogen für Leichenspender
lautete die Überschrift.
»Hap Judd«, antwortete Lucy. »Seine IP-Adresse hat Verbindung zu dieser Website, und er hat unter falschem Namen etwas bestellt ... Moment, wir wollen mal schauen, was dieser Schmierlappen vorhat. Wir folgen seiner Spur.« Sie öffnete weitere Websites. »Hier, auf diesem Bildschirm. FORDISC Software Sales. Ein interaktives Computerprogramm, das auf Windows läuft. Es klassifiziert und identifiziert Skelettteile. Der Typ ist echt morbide. So etwas ist doch nicht normal. Ich bin sicher, dass der Kerl nicht ganz koscher ist.«
»Machen wir uns nichts vor. Du bist auf etwas gestoßen, weil du danach gesucht hast«, entgegnete Berger, als wolle sie andeuten, dass Lucy nicht offen zu ihr war. »Du bist darauf versessen, Beweise dafür zu finden, dass er ein Verbrecher ist.«
»Ich finde die Beweise nur deshalb, weil er sie hinterlässt«, gab Lucy zurück. Seit Wochen stritten sie schon über das Thema Hap Judd. »Warum sperrst du dich so? Glaubst du, ich denke mir das alles nur aus?«
»Ich möchte mit ihm nur über Hannah Starr reden, während du ihn kreuzigen willst.«
»Um etwas aus ihm rauszukriegen, musst du ihm zuerst richtig Angst machen. Insbesondere dann, wenn sein verdammter Anwalt nicht dabei ist. Und ich habe es geschafft, das in die Wege zu leiten, damit du dein Ziel erreichst.«
»Falls wir je hier wegkönnen und er tatsächlich aufkreuzt.« Berger trat vom Computer zurück. »Vielleicht spielt er in seinem nächsten Film ja einen Anthropologen, einen Archäologen oder einen Entdecker«, meinte sie. »So etwas wie Jäger des verlorenen Schatzes oder einer dieser Mumienschocker, in denen Gräber und alte Flüche vorkommen.«
»Na klar«, höhnte Lucy. »Method Acting, das völlige Sichversenken in die Rolle eines Perversen. Möglicherweise schreibt er ja auch wieder eines seiner miserablen Drehbücher. Das wird er sicher als Alibi angeben, wenn wir ihm wegen des Park General Hospital und seiner ungewöhnlichen Vorlieben zusetzen.«
»Nicht wir werden ihm zusetzen, sondern ich. Du wirst nichts weiter tun, als ihm die Ergebnisse deiner Computerrecherche zu zeigen. Marino und ich übernehmen das Reden.«
Lucy würde sich später mit Pete Marino absprechen, wenn keine Gefahr bestand, dass Berger sie belauschte. Er verachtete Hap Judd und hatte ganz bestimmt keine Angst vor ihm. Marino interessierte es einen feuchten Kehricht, ob es sich bei der Person, die er verhörte oder einsperrte, um einen Prominenten handelte. Berger hingegen schien sich von Judd einschüchtern zu lassen, was Lucy nicht verstand. Bis jetzt hatte sie nämlich noch nie erlebt, dass Berger jemanden mit Glacéhandschuhen anfasste.
»Komm her.« Lucy zog sie an sich, bis sie auf ihrem Schoß saß. »Was ist los mit dir?« Sie küsste ihren Rücken und schob die Hände unter das Oberteil ihres Jogginganzugs. »Seit wann bist du so schreckhaft? Das wird heute eine lange Nacht. Wir sollten ein Nickerchen halten.«
Grace Darien hatte langes dunkles Haar und wie ihre ermordete Tochter eine Stupsnase und volle Lippen. Sie trug ihren roten Wollmantel bis zum Kinn zugeknöpft und wirkte zerbrechlich und mitleiderregend, wie sie so am Fenster mit Blick auf den schwarzen Eisenzaun und die mit totem wildem Wein überwucherte Backsteinmauer des Bellevue stand. Der Himmel war bleigrau.
»Mrs. Darien? Ich bin Dr. Scarpetta.«
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