Scarpetta Factor
es versucht, aber sie hat sich geweigert, es anzuschauen. Sie beharrt darauf, ihre Tochter zu sehen. Vorher geht sie nicht.«
»Ist sie im Raum für die Angehörigen?«
»Dorthin habe ich sie zumindest gebracht. Die Akte und Kopien der Formulare liegen auf Ihrem Schreibtisch.«
»Danke. Ich werfe einen Blick hinein, wenn ich oben bin. Sie schieben die Leiche in den Aufzug, und ich kümmere mich um den Rest«, erwiderte Scarpetta. »Wären Sie so gut, Dr. Edison auszurichten, dass ich es nicht zur Dienstbesprechung schaffe? Sie hat sowieso schon angefangen. Hoffentlich erwische ich ihn noch, bevor er Feierabend macht. Ich muss mit ihm über diesen Fall sprechen.«
»Ich gebe ihm Bescheid.« Rene schloss die Hände um den Griff des Rollwagens. »Viel Glück heute Abend im Fernsehen.«
»Sagen Sie ihm auch, ich hätte ihm die Fotos vom Fundort bereits abgespeichert. Allerdings schaffe ich es erst morgen, das Autopsieprotokoll zu diktieren und ihm die Fotos zu mailen.«
»Ich habe die Vorankündigungen für die Sendung gesehen. Klingt gut.« Rene hatte sich offenbar auf das Thema Fernsehen eingeschossen. »Nur diese Carley Crispin kann ich nicht ausstehen. Wie heißt noch mal der Profiler, der auch ständig dabei ist? Dr. Agee. Außerdem habe ich es satt, dass es immer nur um Hannah Starr geht. Ich wette, Carley wird Sie danach fragen.«
»Bei CNN weiß man, dass ich nicht über laufende Ermittlungen spreche.«
»Glauben Sie auch, dass sie tot ist? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher.« Renes Stimme folgte Scarpetta in den Aufzug. »So wie diese Frau in Aruba? Natalee? Leute verschwinden nur aus einem ganz bestimmten Grund, und zwar, weil andere Leute es so wollen.«
Man hatte Scarpetta zugesichert, dass es nicht dazu kommen würde. Das würde Carley Crispin niemals wagen. Schließlich war Scarpetta nicht irgendeine Expertin, eine Außenstehende, ein selten geladener Gast oder irgendjemandes Sprachrohr, hielt sie sich während der Fahrt im Aufzug vor Augen. Sie war die oberste forensische Analystin bei CNN und hatte dem Produzenten Alex Bachta unmissverständlich klargemacht, dass sie sich nicht über Hannah Starr äußern, ja, nicht einmal ihren Namen erwähnen würde. Die attraktive und erfolgreiche Finanzberaterin hatte sich am Tag nach Thanksgiving in Luft aufgelöst. Zuletzt war sie beobachtet worden, wie sie ein Restaurant in Greenwich Village verließ und in ein Taxi stieg. Falls sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten, dass sie ermordet worden war, und ihre Leiche in New York City aufgefunden wurde, war die hiesige Gerichtsmedizin dafür zuständig. Also bestand die Möglichkeit, dass die Leiche auf Scarpettas Autopsietisch landete.
Im Parterre stieg Scarpetta aus dem Aufzug und ging, vorbei am Büro für Sondereinsätze, den langen Flur entlang. Hinter einer weiteren verschlossenen Tür befand sich die Vorhalle. Sie war mit weinrot und blau bezogenen Sofas und Sesseln, Couchtischen und Zeitschriftenständern ausgestattet. Vor einem Fenster mit Blick auf die First Avenue standen ein Weihnachtsbaum und eine Menora. In den Marmor über dem Empfangstisch waren die Worte Taceant Colloquia Efugial Risus Hic Locus Est Ugbi Mors Gaudet Succurrere Vitae eingemeißelt – der Ort, wo der Tod seine Freude daran hat, den Lebenden zu helfen. Ein Radio hinter dem Empfangstisch spielte Musik. Die Eagles sangen »Hotel California«. Filene, eine Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes, hatte offenbar beschlossen, dass die menschenleere Vorhalle ihr Revier war und deshalb mit Musik nach ihrem Geschmack beschallt werden konnte.
»... You can check out anytime but you can never leave – Man kann jederzeit auschecken, aber man kommt nicht weg«, summte Filene leise mit, anscheinend ohne sich der Ironie bewusst zu sein.
»Es wartet jemand im Zimmer für die Angehörigen.« Scarpetta blieb am Empfangstisch stehen.
»Oh, Verzeihung.« Filene bückte sich, um das Radio auszuschalten. »Ich glaube, von hier aus war es nicht zu hören. Aber es ist schon in Ordnung. Ich kann auch ohne meine Musik leben. Es ist nur so langweilig hier, wissen Sie? Den ganzen Tag sitzt man herum, und nichts passiert.«
Dass Filene hier ausschließlich unschöne Dinge zu sehen bekam, war vermutlich eher als Langeweile der Grund, warum sie sich so oft wie möglich mit aufmunterndem Softrock tröstete, ganz gleich, ob sie nun am Empfang oder unten in der Autopsie Dienst hatte. Scarpetta störte das nicht, solange keine trauernden
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