Scatterheart
krachend ins Schloss.
»Warten Sie!«, rief Hannah. »Ich gehöre nicht hierher! Ich möchte einen Verantwortlichen sprechen!«
Die Schritte des Wärters hallten im Gang wider und verklangen. Hannah sank zu Boden. Sie versuchte die Tränen zurückzuhalten. Die zahnlose Alte berührte sie am Arm.
»Höflichkeit zu Unhöflichen zahlt sich nicht aus«, sagte sie zischelnd. Hannah starrte sie an. Hier waren alle verrückt. Tränen rollten ihr über die Wangen.
»Hör nicht auf die alte Tabby«, sagte Long Meg, die die Szene beobachtet hatte. »Die ist völlig verblödet.«
Die Alte spuckte auf den Steinboden und lutschte an ihrem Brotkanten. Hannah sah ihn sehnsüchtig an.
»Hier, Frollein!« Long Meg brach ihr Brot entzwei und bot Hannah die Hälfte an. »Aber nur dieses eine Mal.«
Hannah nahm das Stück und begann nun erst recht zu weinen. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wann jemand das letzte Mal nett zu ihr gewesen war.
»Tut mir leid«, schluchzte sie hicksend.
»Wein dich nur aus«, sagte Long Meg. »Je mehr du weinst, desto weniger musst du pinkeln.«
Thomas kam nicht wieder. In den ersten drei Tagen vergoss Hannah bittere Tränen, aber am vierten Tag verwandelten sich ihre Trauer und ihre Scham in ein Gefühl hart wie Glas.
Was kümmerte es sie, dass er fort war? Thomas war doch nur ein Diener, den ihr Vater eingestellt hatte, damit er sie unterrichtete. Dennoch wusch sie sorgfältig sein Taschentuch, faltete es ordentlich zusammen und legte es in ihre Kommode.
Nachdem Lettie und Thomas nicht mehr da waren, verhielten sich die anderen Diener Hannah gegenüber kühl. Morgens knallten sie ihr das Frühstück auf den Tisch, der Toast war an den Rändern oft verbrannt und der Tee lauwarm.
An den Vormittagen wanderte Hannah ziellos durchs Haus und wartete, bis ihr Vater aufstand oder einer ihrer neuen Lehrer zu einer Musik- oder Tanzstunde eintraf. Hannahs Vater hatte es anscheinend nicht eilig, ein neues Hausmädchen zu suchen. Er war zerstreut und geistesabwesend – mehr noch als sonst. Manchmal stand er erst um drei Uhr nachmittags auf, war aber um sechs Uhr schon wieder unterwegs und kam erst in den frühen Morgenstunden nach Brandy und Zigarrenrauch riechend nach Hause.
Ungefähr zwei Wochen nach Thomas Behrs Weggang saß Hannah eines Morgens im Salon und bestickte für ihren Vater ein Paar Pantoffeln. Draußen fiel der Schnee indicken Flocken und bildete eigenartige graue Schlieren im Nebel. Das Feuer prasselte im Kamin, trotzdem zitterte Hannah vor Kälte und schlang ihren Schal enger um sich. Plötzlich wurde die Haustür mit einem Knall aufgerissen. Hannah zuckte erschrocken zusammen. Aus der Diele kamen Schritte. Hannah runzelte die Stirn. Niemand hatte geklopft und ihr Vater schlief sicher noch. Sie erhob sich und öffnete die Tür zum Flur.
Dort stand ihr Vater und klopfte sich schmutzig grauen Schnee vom Kopf und von den Schultern. Seine Reitstiefel, gewöhnlich auf Hochglanz poliert, waren stumpf und nass vom Schnee, und seine Hände in den gelben Handschuhen zitterten.
»Papa!«, rief Hannah. »Was ist geschehen? Wo ist dein Hut? Wo ist dein Mantel? Bist du letzte Nacht gar nicht nach Hause gekommen?«
Er wandte ihr das Gesicht zu. Seine Augen waren blutunterlaufen und seine Wangen schlaff und grau. Er schüttelte den Kopf. »Nur keine Sorge, mein Engel. Es ist nichts.« Sein Blick war unstet. Ihr Vater ging an ihr vorbei und stieg die Treppe hinauf. Er musste sich am Geländer abstützen. Hannah folgte ihm.
»Papa, ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Bist du überfallen worden? Wo ist dein Hut?«
Er blieb auf halbem Weg nach oben stehen, wühlte in seinen Taschen und zog etwas heraus, das in ein schmuddeliges Leinentuch gewickelt war. Er warf es ihr zu. »EinGeschenk, mein Engel. Und nun sei ein braves Mädchen und lass deinen Vater allein. Ich muss mich um meine … Geschäfte kümmern.«
Hannah nahm das Bündel und sah ihrem Vater nach, der schwankend die Stufen erklomm. Dann wickelte sie das Päckchen aus. Zum Vorschein kam ein Paar Silberohrringe mit winzigen, glitzernden Saphiren.
Hannah kreischte entzückt auf, rannte in ihr Zimmer und legte die Ohrringe an. Sie drehte ihren Kopf mal hierhin, mal dorthin und bewunderte sich im Spiegel. Das musste ihr Vater sehen!
Sie öffnete die Tür zu seinem Schlafzimmer und blieb erschrocken stehen. Ihr Vater warf fieberhaft Kleidungsstücke in einen Koffer auf seinem Bett.
»Papa, was tust du da?«, fragte Hannah.
Ihr Vater
Weitere Kostenlose Bücher