Scatterheart
ist sehr besorgt um dich«, erwiderte Thomas steif.
Hannah spürte einen Stich in ihrem Inneren und wurde unruhig.
»Wollten Sie mir etwas sagen?«, fragte sie herausfordernd.
»Über meinen Vater?«
»Schon gut.« Thomas zog seinen zu kurzen Hemdsärmel herunter, der nach oben gerutscht war und den Blick auf ein dichtes Wirrwarr heller Haare freigegeben hatte.
»Nein«, sagte Hannah, »ich möchte, dass Sie mir sagen, was sie über meinen Vater denken.«
Thomas seufzte abermals.
»Ich warte«, sagte Hannah.
Er stand auf und ging zum Kamin. Dann drehte er sich um und sah sie an.
»Hannah, dein Vater putzt dich wie ein Porzellanpüppchen heraus und dann gondelt er durch die Stadt und wirft mit dem Geld anderer Leute um sich. Und dich lässt er hier in diesem großen Haus allein …«
»Mein Vater ist sehr bedeutend«, entgegnete Hannah, »und es macht mir gar nichts aus, dass seine Geschäfte ihn ab und zu fortrufen.«
Thomas schnaubte verächtlich. »Geschäfte. Das kann man wohl sagen. Dein Vater ist in ganz London berüchtigt für seine Geschäfte.«
Hannah starrte ihn sprachlos an. Thomas’ Augen funkelten und eigentlich machte es Hannah immer glücklich, sein Gesicht so aufgeregt leuchten zu sehen, auch wenn es nur aus Wut war. Aber so durfte er nicht mit ihr sprechen. Ihr Vater wäre bestimmt sehr erzürnt.
Thomas schüttelte den Kopf. »Hannah, ich …«
»Miss Cheshire«, sagte Hannah frostig.
Thomas schaute zur Seite. Die Röte war aus seinen Wangen gewichen und das Licht in seinen Augen war wieder erloschen. Seine Schultern fielen nach vorn.
Hannah spürte ein Ziehen in der Brust und war nun milder gestimmt. »Verzeihen Sie«, sagte sie und berührte seine Finger.
Thomas zog seine Hand schnell zurück.
»Ihre Hände sind eiskalt«, stellte Hannah fest.
»Draußen ist es eiskalt«, erwiderte Thomas Behr, ohne sie anzusehen.
»Nicht so kalt wie das Land, aus dem Scatterheart und der weiße Bär gekommen sind«, sagte sie lächelnd.
Thomas blickte sie überrascht an und lächelte zurück.
»Nein, so kalt nicht.«
»Wo liegt dieses Land?«, fragte Hannah.
»Die Geschichte stammt aus Norwegen.« Er nahm seine Brille ab, die sich in dem warmen Zimmer beschlagen hatte, und polierte sie mit einem Taschentuch.
»Woher wissen Sie das? Sind Sie aus Norwegen?« Sie überlegte, warum sie ihn noch nie danach gefragt hatte, und stellte fest, dass sie überhaupt sehr wenig von ihm wusste. Wo wohnte er? Hatte er noch eine andere Arbeit? Wo lebte seine Familie?
»Mein Vater ist Deutscher, aber seine Mutter stammte aus Norwegen. Sie hat immer Geschichten erzählt …« Er unterbrach sich, als irgendwo im Haus eine Tür zuschlug. Sodann hörten sie ein Schluchzen und das Geräusch von zerspringendem Glas.
»Was ist denn hier los?«, fragte Thomas und sprang auf. Das Taschentuch glitt zu Boden.
»Wahrscheinlich Lettie«, erwiderte Hannah gleichgültig.
»Vater hat sie gestern Nachmittag entlassen.«
»Hat sie entlassen? Aber warum?« Thomas starrte nach oben, als könnte er durch die Decke Arthur Cheshire in seinem Bett sehen.
Hannah zuckte die Achseln. »Vater war mit ihr nicht zufrieden. Sie hat immer mit der Tasse geklappert, wenn sie ihm Tee serviert hat.«
»Sie hat mit der Tasse geklappert?«, fragte Thomas. »Er hat sie entlassen, weil sie mit der Tasse geklappert hat?« Hannah verdrehte die Augen. »Er glaubt auch, dass sieseine Perlmuttmanschettenknöpfe gestohlen hat. Jedenfalls kann er sie nirgendwo finden. Machen wir jetzt mit dem Unterricht weiter?«
Thomas drehte sich zu ihr um und runzelte leicht die Stirn. »Natürlich«, sagte er und setzte sich wieder. Aber er schwieg.
»Thomas?«, flüsterte Hannah.
»Das arme Mädchen.«
Jetzt war es Hannah, die die Stirn runzelte. »Das arme Mädchen? Dieses arme Mädchen hat uns bestohlen«, sagte sie. Was hatte er nur? Wen kümmerte es schon, wenn ein Hausmädchen entlassen wurde?
Thomas seufzte. »Aber was könnte sie dazu gebracht haben? Sie schien hier glücklich zu sein.«
»Bei solchen Leuten kann man das nie wissen.«
»Bei was für Leuten?«, fragte Thomas. »Bei Dienern? Bei Armen? Bei Leuten wie mir?«
Hannah errötete. »Sie ist eine Diebin. Sie hat es nicht anders verdient.«
Thomas stand wieder auf und ging zum Kamin hinüber. »Hast du denn kein Mitleid mit ihr?«, fragte er. »Dein Vater hat sie auf die Straße gesetzt. Das heißt, sie muss stehlen oder verhungern oder noch schlimmer. Vielleicht wird sie auch zum Tode
Weitere Kostenlose Bücher