Scatterheart
sah noch schmuddeliger aus als sonst, wie er dort in der Tür zum Speisezimmer stand. Der Saum seines Mantels war abgerissen, sodass man die groben Nähte sehen konnte. Er hatte keine Handschuhe an und seine Finger waren blau vor Kälte. Hannah hätte sich ihm am liebsten in die Arme geworfen und geweint. Aber irgendetwas hielt sie zurück.
»Mr Behr«, sagte sie höflich und neigte den Kopf.
Er nahm seinen Hut ab und verbeugte sich.
»Bitte nehmen Sie Platz«, forderte Hannah ihn auf.
Er setzte sich kurz hin und schwieg. Dann stand er wieder auf und ging zum Kamin hinüber.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Hannah.
Thomas Behr schaute ihr zum ersten Mal direkt in die Augen und bei seinem durchdringenden Blick musste Hannah zur Seite sehen.
»Dein Vater«, begann er.
Hannah lächelte. »Mein Vater ist geschäftlich in Paris. Er wird jeden Tag zurückkommen, falls Sie mit ihm über eine Erneuerung Ihres Vertrags sprechen möchten.«
Thomas stützte sich mit den Händen auf den Kamin.
»Er wird nicht zurückkommen.«
Hannahs Kiefer schmerzte vom krampfhaften Lächeln.
»Ich glaube, Sie irren sich.«
Thomas nahm eine Porzellanfigur vom Kaminsims und musterte sie sorgfältig. Hannah hörte das Ticken der Uhr aus der Diele.
»Wenn er zurückkommt, wird er getötet.«
Hannah lachte nervös. »Unsinn.«
»Hannah«, sagte Thomas und stellte das Figürchen wieder hin, »er ist in großen Schwierigkeiten.«
Hannah zitterte. Sie hielt sich an den Armlehnen fest, damit Thomas es nicht bemerkte.
»Er ist außer Landes geflohen. Er hat das Vermögen deiner Mutter verspielt. Über Jahre hinweg hat er nur Schulden gemacht.«
Hannah schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist ein guter Mensch, ein Geschäftsmann.«
»Letzte Woche …« Thomas zerrte an seinem Kragen, als bekäme er keine Luft. »Letzte Woche hat einer seiner Gläubiger sein Geld zurückverlangt. Dein Vater war betrunken. Er wurde handgreiflich … Er hat den Mann fast umgebracht und sein Geld und seine Wertsachen gestohlen. Am nächsten Tag ist er verschwunden. Niemand weiß, wo er ist.«
Hannah sah ihren Vater vor sich, wie er mit blutunterlaufenen Augen ohne Hut und Mantel in der Diele gestanden hatte. Ihr war, als müsste die Welt um sie herum einstürzen.
»Woher wissen Sie das?«, fragte sie und schämte sich des Bebens in ihrer Stimme.
»Alle wissen es«, erwiderte Thomas Behr verlegen. »Es ist Stadtgespräch.«
Hannah dachte daran, wie die Diener miteinander getuschelt hatten.
»Sie sind ein Lügner«, sagte sie.
Eine Stimme in ihrem Inneren widersprach. Thomas hatte sie noch nie belogen. Hannah wehrte sich gegen die Stimme. Er musste lügen. Ihr Vater würde niemals so etwas … Niederträchtiges tun. Und niemals würde er sie für immer verlassen.
Thomas zog seinen Stuhl näher an sie heran.
»Hannah. Ich kann dir helfen. Du musst wissen, wie sehr ich …«, stammelte er und sah zur Seite, »wie sehr ich dich …«
Er holte tief Luft und nahm ihre Hand.
»Erlaube, dass ich mich um dich kümmere«, fuhr er fort.
»Ich kann dir kein Haus in Mayfair und keine vornehmen Kutschen bieten, aber ich weiß, dass wir glücklich sein könnten … Ich habe einen Onkel, der Kapitän ist. Er hat gesagt, er könnte mir eine Anstellung bei der Marine verschaffen.«
Er schwieg und wurde puterrot. Hannah starrte ihn an. »Sie wollen mich heiraten?« Mit einem hysterischen Kichern entzog sie ihm die Hand. »Aber Sie sind doch schon so alt!«
Thomas sah sie verblüfft an. »Ich weiß, du bist für eine Heirat noch ein bisschen jung, Hannah. Aber so etwas kommt vor. Außerdem bin ich nur fünf Jahre älter als du.« Hannah blickte ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Die hellen Haare, die ihr immer weiß erschienen waren, waren in Wirklichkeit hellblond. Er war fast vier Jahre lang ihr Hauslehrer gewesen. War er wirklich erst neunzehn?
Sie schüttelte den Kopf. Das war alles lächerlich. Ihr Vater rannte doch nicht davon! Thomas Behr log. Sie hatte ihm vertraut, zu ihm aufgeschaut. Und jetzt log er sie an. Sie erhob sich.
»Mr Behr«, sagte sie. »Sie sind in mein Haus gekommen, Sie haben mir abscheuliche Lügen über meinen Vater erzählt, und das alles in dem verzweifelten, erbärmlichen Versuch, meine Zuneigung zu gewinnen. So leicht bin ich aber nicht zu täuschen. Ich werde Sie oder Ihresgleichen niemals heiraten. Ich bin die Tochter eines Gentlemans und werde einen Gentleman heiraten. Nicht irgendeinen … dahergelaufenen
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