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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Schutzherr des Traumtodes; denn dieser Kult soll aus dem alten Ägypten stammen, ein geheimer Ritus, der über die Generationen hin weitervermittelt wurde, seit er in der Zeit der Fünften Dynastie an den Ufern des trägen, fruchtbaren Nils ausgeübt wurde. Im Innern des Zeltes ist zu Schadrachs Überraschung alles licht. Eine Unzahl von Lampen verbreitet blendende Helligkeit, so daß die Luft von betäubendem, bläulich weißem Licht zu brennen scheint und alle Schatten ausgelöscht sind. Schadrach ist von dieser grellen Beleuchtung unangenehm berührt und wünscht sich in die schummrige Atmosphäre des Transtemporalistenzelts. Aber im Reiche Amon Res muß das strahlende Licht der Sonne herrschen.
    Eine kostümierte Gestalt nähert sich ihnen, eine schlanke orientalische Frau in einem weißen Lendenschurz und einer mächtigen vergoldeten Löwenmaske, die schwer auf ihren schmächtigen Schultern ruht. Um den Hals trägt sie ein goldenes Amulett. Sie spricht nicht, aber ihre ausdrucksvollen Gebärden geleiten Schadrach und Katja Lindman durch das gut besuchte Zelt, vorüber an Dutzenden von Schläfern, die auf weichen, weißen Matratzen liegen, durch symbolische Unterteilungen aus goldfarbenen Kordeln, die zwischen Pfosten aus Ebenholz gespannt sind, voneinander getrennt. In dem leeren Abteil, das ihnen zugedacht ist, liegen zwei solcher Matratzen nebeneinander, auf jeder ein sauber zusammengefaltetes Traumkleid. Neben dem Eingang steht eine mit reichem Schnitzwerk verzierte hölzerne Truhe, die zur Aufnahme ihrer Straßenkleidung bestimmt ist. Katja beginnt sich sofort zu entkleiden, und Schadrach folgt nach kurzem Zögern ihrem Beispiel. Die Wärterin bleibt am Eingang stehen, zeigt kein Interesse an der Nacktheit der Besucher. Schadrach kommt sich in seinem Kostüm albern vor. Es besteht aus einem Lendenschurz, der Hüften und Schenkel bedeckt, einem Gürtel aus einer Schnur mit aufgereihten Glasperlen, und zwei schmalen grünen und blauen Stoffstreifen, die ihm von der Wärterin kreuzweise um den Oberkörper befestigt werden.
    Katja lächelt ihm zu. Er verspürt eine Anwandlung von Lust, als sie ihre Kleider ablegt und einen Lendenschurz anlegt, der dem seinigen gleicht. Statt der Stoffstreifen legt sie sich ein Amulett wie jenes der Wärterin um den Hals. Wie immer, bringt ihr Körper ihn aus der Fassung: breithüftig und untersetzt, ist es der Körper einer Bäuerin, mit tiefliegendem Schwerpunkt, einem unter glatten Rollen Bauchspeck verborgenem Nabel, vollen und ziemlich lang herabhängenden Brüsten. Es ist ein kräftiger und wollüstiger Körper, stark, ohne auch nur im mindesten athletisch zu sein, von einer ähnlich übertriebenen Weiblichkeit wie die urzeitlichen Frauenidole aus den Höhlen der Cro-Magnon-Menschen. Was Schadrach am meisten stört, ist der Gegensatz zwischen diesem robusten, an Mutter Erde gemahnenden Körper und den bedrohlich spitzen und scharfen kleinen Raubtierzähnen unter, den schmalen Lippen. Katjas Mund steht im Widerspruch zu der archetypischen Erscheinung ihres Körpers, und dieser Widerspruch macht sie für Schadrach zu einem Rätsel. Vielleicht gilt hier das Wort Falsus in uno, Falsus in omnibus.
    Die löwenköpfige Wärterin fordert sie auf, auf den Matratzen niederzuknien und reicht jedem von ihnen eine Art Talisman aus poliertem Metall. Zuerst scheint es nichts weiter als die Nachbildung eines alten ägyptischen Handspiegels zu sein, ein verzierter Handgriff, der eine polierte Metallscheibe mit einem Randornament aus fein gravierten ägyptisierenden Motiven trägt, den Horusfalken, Schlangen, Skorpione, Skarabäen, Bienen, den Ibis des Gottes Toth, dazwischen winzige, aber irgendwie unheilvoll aussehende Hieroglyphen; aber wie er hineinblickt, beginnt Schadrach ein schwindelerregendes Muster beinahe unsichtbarer punktierter Linien wahrzunehmen, die in Spiralen um die Mitte der Scheibe angeordnet scheinen; diese Linien sind nur zu sehen, wenn er den Spiegel in einem bestimmten Winkel zu einer grellen Lampe über ihm hält; und indem er den Spiegel ein wenig bewegt, kann er den Linien einen Anschein von Bewegung verleihen, ein Wirbeln gegen den Uhrzeigersinn, einen Strudel…
    … der ihn zum Mittelpunkt der Scheibe saugt.
    Also arbeiten sie hier mit Hypnose statt mit Drogen, denkt er mit einem selbstgerechten wissenschaftlichen Überlegenheitsgefühl: Schadrach, der Gelehrte, der über den Dingen stehende Beobachter aller menschlichen Phänomene… Aber dann fühlt er einen

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