Schäfers Qualen
sind doch dort aufgewachsen, Schäfer, Sie kennen die Gebräuche, die Menschen dort vertrauen nun mal nur Ihresgleichen“, fantasierte er und sah seinen besten Mann an, als nähme er Maß für eine schnell herzustellende Tiroler Tracht.
„Sagen Sie doch mal was. In Ihrem Herkunftsidiom, meine ich.“
Schäfer, der mit dieser Aufforderung seit seiner Jugend nicht mehr konfrontiert gewesen war, wollte zumindest die Dialektbezeichnung des possierlichen Nagetiers vermeiden, die jedem Touristen quasi als erste Aufnahmeprüfung gestellt wurde, und versenkte sich in die Tiefen seines Gehirns, um ein halbwegs authentisches Ergebnis zu liefern.
„Ogwedaschta Godaschnoppa“, drang es aus ihm heraus, und sofort ärgerte er sich, dieses Ureinwohnertheater mitzuspielen.
„Wie?“
„Abgewetterter Gatterschnapper“, übersetzte Schäfer.
Weil er auch mit diesem Begriff nichts anfangen konnte, schaute der Oberst Schäfer prüfend an. Wollte er ihn auf den Arm nehmen? Doch Schäfers Gedanken waren zu einer längst vergangenen, romantischen Begebenheit auf einer Almwiese gewandert, und seine Blicke waren die eines treuen Schafes. Kamp war entzückt – glaubte er doch umgehend, Zeuge einer seltenen Selbsthypnose zu sein, der Verwandlung in einen dumpfen Dorfgendarmen, hinter dessen Viehblick und Dialektgrunzen unbemerkt der geniale Verstand des Wiener Majors weiterwerkte.
„Außerordentlich, Schäfer, ganz außerordentlich, Sie verblüffen mich immer wieder, ja, haha. Nun, dann kann ich meinem Freund vom Landeskriminalamt Tirol Bescheid blasen, dass Sie umgehend anreisen. Dass Sie mit Ihren Kollegen aus der Provinz feinfühlig umgehen, muss ich Ihnen ja nicht sagen. Die könnten den Eindruck bekommen, dass ihnen ihr Chef die Aufklärung dieses Falls nicht zutraut. Genau so ist es auch und deswegen hat er auch mich angerufen – aber das müssen Sie ja nicht so kommunizieren. Machen Sie auf Tiroler, Herr Major … Servus, griaß di und so weiter, ja … nun, jetzt lassen Sie sich von meiner Sekretärin über alle weiteren Details des Falles in Kenntnis setzen und bringen Sie mir so bald wie möglich: Ergebnisse, Ergebnisse, Ergebnisse.“
Schäfer, der gelernt hatte, sich von diesen Worten als Schluss einer wie auch immer gearteten Ausführung in die Realität zurückholen zu lassen, erwiderte umgehend: „Selbstverständlich, Herr Oberst“, und verabschiedete sich.
Als er die Tür hinter sich zuzog, hörte er nochmals seinen Namen rufen. Er öffnete die Tür erneut und steckte fragend seinen Kopf in den Raum.
„Berg Heil!“, schrie ihm der sichtlich euphorisierte Kamp entgegen.
„Waidmanns Dank“, erwiderte Schäfer nicht ganz standesgemäß, weil er ahnte, dass seine Zeit in Tirol mehr mit Jagen als mit Bergsteigen zu tun haben würde.
3
Schäfer saß im Großraumwagen der ersten Klasse und sah auf seinem Laptop die Ermittlungsakten durch, die der Kitzbüheler Postenkommandant und eine Kripobeamtin aus Innsbruck ihm geschickt hatten. Er hatte wie immer darauf bestanden, die Berichte digital übermittelt zu bekommen. Das machte es ihm einfach, Fehler in der Grammatik zu korrigieren und ungelenke Formulierungen zu verbessern. Er konnte Wörter austauschen, aus einem Indikativ einen Konjunktiv machen oder auch etwas zwischen die Zeilen schieben, um eine öde Beschreibung dramatischer zu gestalten. Andere Kriminalisten wären empört gewesen, hätten in dieser Vorgehensweise eine verantwortungslose Verfälschung eines objektiven Berichts gesehen. Schäfer aber erachtete seine Interpretationen des Geschehens als mindestens ebenso gültig wie alle anderen. Wer wusste schon, was einen Bericht mehr verfremdete: die Angst derer, die mit dem Verbrechen konfrontiert waren, oder die Fantasie dessen, der die Einzelteile später zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen hatte – zu einem Bild, mit dem alle Betrachter zufrieden wären. Deshalb genoss Schäfer die Freiheit, die ihm das „Speichern unter“ gab. Welche seiner Versionen er an seine Kollegen und Vorgesetzten weitergab, blieb ihm überlassen. Und letztendlich war es immer der Ermittlungserfolg, der jedes Argument im Streit um Objektivität oder Subjektivität übertraf.
Das Opfer hieß Simon Steiner, Unternehmer, geboren 1948 in Mayrhofen, seit 1966 wohnhaft in Kitzbühel, verheiratet, eine Tochter. Kitzbühel. Schäfer seufzte. Obwohl er immer versuchte, den Fall zuerst einer distanzierten und vernunftbestimmten Bestandsaufnahme zu unterziehen, konnte
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