Schafkopf
doch. Oder noch.
Am nächsten Tag drehte der Wind.
Siri Hustvedt
4. Kapitel
Caprimulgus: ein wohlklingender Name für eine Schwalbe, genauer: eine Nachtschwalbe. Unwillkürlich denkt man beim ersten Lesen dieses Namens wahrscheinlich an Sommer, Sonne, Licht und Meer. Capri. Doch die Bezeichnung leitet sich vom Lateinischen »capra«, Ziege, ab, und von »mulgere«, melken. Dieser Caprimulgus europaeus, eine in Mitteleuropa vorkommende Art, ist ausschließlich nachtaktiv. Am Tag macht sich der Vogel, absolut still sitzend, mit seinem graubraun gestreiften und gesprenkelten Federkleid zum Teil eines Astes und wird beinahe unsichtbar, ebenso, wenn er auf dem Boden sitzt. Dieser Vogel kommt im April oder Mai und fliegt im August oder September wieder fort. Aber er ist inzwischen sehr selten. Im gesamten deutschen Raum, so schätzt man, leben noch höchstens 5000 Exemplare. Nachtschatten oder Tagschläfer wird er auch genannt.
Um den Ziegenmelker ranken sich viele Geschichten. Zum Beispiel, dass er nachts, wenn er auf Beutefang ist, von den Eutern der Ziegen trinkt. Pal Weber, ein Ornithologe, kannte viele solcher Geschichten, und diese hatte er vom Schäfer, der auf den Regnitzwiesen seine Schafe weidete. Der Schäfer aber hatte beim Erzählen gegrinst. Früher, so der Schäfer, habe der Ziegenmelker nachts zur Herde gehört wie heute die Schwalben und Stare am Tag. Bei diesen Worten zeigte er auf die pfeilenden Schwalben zwischen den Schafen und die Stare, die am Boden pickten. Er habe schon lange keinen mehr gesehen. Ob es die überhaupt noch gebe?
Auch Pal Weber hatte noch nie einen Ziegenmelker in freier Wildbahn, also live, gesehen. Dementsprechend elektrisiert war er, als er in der örtlichen Zeitung folgende Meldung las: Man habe in einem Waldgebiet nördlich der Stadt eine Trinkwasserbrunnen-Bohrung abbrechen müssen, weil sich in unmittelbarer Nähe ein Pärchen Ziegenmelker niedergelassen und seine Brutstätte eingerichtet hätte. »Brutstätte« war gut für den Ziegenmelker, dachte Pal Weber. Denn der baut sich kein herkömmliches Nest, sondern legt seine ein bis zwei Eier einfach auf den Boden in eine Mulde. Durch die Bohrung, so stand es in dem Artikel, sei der so seltene Vogel massiv in seinem Lebensraum gestört gewesen, und man habe sie deshalb eingestellt und das zugehörige Bohrgerät abgebaut. Dadurch sei der Stadt zwar ein nicht geringer Verlust entstanden, die Qualität des Trinkwassers, das man dort vorzufinden gehofft hatte, aber hätte man ohnehin nicht als besonders hoch eingeschätzt, was man aus bereits erfolgten Bohrungen im näheren Umkreis schloss. Warum bohren sie dann dort überhaupt, dachte Pal Weber, aber es stand für ihn auf der Stelle fest: Ich werde diesen Vogel suchen.
Die Ortsbeschreibung der Bohrung aber war in dem Zeitungsartikel zu ungenau, als dass man sich hätte auf die Suche machen können. Wahrscheinlich nicht ohne Absicht. Man wollte den Vogel schützen. Auch zwei Kollegen, die er anrief, konnten nicht weiterhelfen. Aber egal, er würde diesen Vogel finden.
Er recherchierte, und am späten Nachmittag fuhr er hinaus. Es musste sein, denn am nächsten Morgen wollte er zu einem Kongress nach Chile abreisen. In der beginnenden Dämmerung nahm er das Rad hinaus, an den Fischteichen vorbei. Ein Teichwirt hantierte dort am Auslass eines Teiches. Der kannte sich hier ganz sicher aus. Weber schob sein Rad hinüber.
Ob er wisse, wo hier in der Nähe nach Trinkwasser für einen Brunnen gebohrt worden sei?
Von der Stadt oder von privat?
Von der Stadt, mutmaßte Weber. Die Bohrung sei abgebrochen worden, erst kürzlich. Habe in der Zeitung gestanden.
Ja, daran erinnere er sich, sagte der Teichwirt. Aber wo das sein solle? Keine Ahnung. Auf jeden Fall nicht hier. Oder doch? Keine Ahnung. Was er da suche?
Den Ziegenmelker, einen Vogel.
Ach ja, stimmt. Jetzt wo er es sagt! Das hatte er auch gelesen. Aber den Vogel kenne er nicht. Muss aber da drin sein, und er deutete hinüber zum Wald. Die Abendsonne schien schräg über das Wasser, das Grün der Uferwiesen leuchtete satt im Gegenlicht, und dicht über der Oberfläche zeigte sich erster nebeliger Hauch. Eine zarte Ahnung von Dunst. Blütenstaub trieb schlierenhaft, Insekten tanzten. Drüben sprang ein Fisch, dann lag der Teich wieder ruhig. Wie gespannt seine Oberfläche.
Noch einmal besah er sich seine Karte und grenzte zwei Stellen ein, an denen er sich eine Brutstelle vorstellen konnte. Gleich bei der ersten glaubte er
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