Schatten der Gegenwart (Für Immer & Länger)
riss das Blatt mit einem kräftigen Ruck vom Kalender. Ich zerknüllte es
in meiner Hand bis es nur noch ein kleiner harter Ball übrig blieb und feuerte
ihn Richtung Tür. Keine Sekunde später ging diese auf und Michael trat ein. Wie
konnte er nur immer noch aufrecht gehen, bei der Schuld, die er sich aufgeladen
hatte?
»Wie kannst du es nur wagen?!«,
zischte ich und musste dabei jedes Wort herauspressen, damit es mir nicht in
der Kehle stecken blieb.
»Emilia, lass es mich doch erklären«,
wand er ein und trat einen Schritt auf mich zu. Er versuchte meinen Arm zu
fassen. Ehe ich es selbst registrieren konnte, landete meine Hand pfeffernd in
seinem Gesicht.
»Wage es nicht, mich anzufassen!« Am
liebsten hätte ich ihm irgendetwas Hartes an den Kopf gedroschen.
»Du musst das Ganze verstehen!
Es ist unser Schicksal!« In seinem Blick lag Verwunderung aber auch tiefe
Entschlossenheit, keinerlei Spur von Reue oder Schuldbewusstsein.
Von meinem Schlag schien er keine
Kenntnis genommen zu haben. Dafür war der Schmerz, der durch meine Hand fuhr umso
größer. Aber es war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der sich in meinem
Inneren ausbreitete, der jede Sekunde damit drohte, mich zu zerreißen. Der
Schmerz, der mich in den vergangen Wochen verschont hatte, um nun noch
mächtiger als jemals zuvor zurückzuschlagen.
Doch ich stand noch. Ich war noch nicht
in tausend Teile zersprungen. Übermächtige Wut und abgrundtiefer Hass bebte
durch meine Adern und gaben mir die Kraft, weiter zu atmen und wenn auch etwas
wankend – ich stand noch.
»Emilia, verstehst du denn immer noch
nicht! Wir gehören zusammen!« Er klang fast flehend. Doch ich hatte keinerlei
Vergebung in mir. Alles war erfüllt von Wut, Zorn, Hass und unendlichem
Schmerz.
»Ich habe und werde nur einem
Menschen gehören! Und das bist nicht DU!«, schrie ich und seine
Selbstsicherheit bröckelte. Er sollte leiden. Er sollte begreifen, was er mir
angetan hatte. Und doch würde es nicht annähernd eine Spur dessen sein, was ich
in diesem Augenblick empfand.
»Du irrst dich, ich…«
Wieder suchte meine Hand sein
Gesicht, diesmal zur Faust geballt. Aber so weit kam ich nicht. Er war
schneller und seine Hand schloss sich fest um mein Handgelenk. Der Funken von
Selbsterkenntnis war verschwunden und ungebrochene Zuversicht lag nun wieder in
seinem Blick.
»Hör mir zu!«, sagte er herrisch und
schien dabei mit seinem Blick in meinem Verstand zu wildern.
»Das werde ich NIE MEHR!« Einen
Moment später hatte ich mich aus seiner Umklammerung gelöst. Ich warf mir die
Tasche über die Schulter, griff nach meiner Jacke und schnellte Richtung
Hinterausgang. Kurz vor der Tür hielt ich kurz inne. »Ich wusste, dass du ihn gehasst
hast. Das habe ich immer gespürt. Es war allgegenwärtig. Aber das du MIR das
hier antust!«
Meine Stimme versagte. Ich hatte ihm
vertraut. Ich wollte die kommende Zeit mit ihm verbringen, den Rest meines
Lebens, und alles wozu er im Stande war, war mich zu verletzen und es nicht
einmal zu verstehen! Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Warum war ich
überhaupt zu ihm zurückgekehrt?
»Wage es ja nicht, mir noch einmal
unter die Augen zu treten!« Es waren die letzten Worte, die ich herauspressen
konnte und verwundert ließ ich ihn zurück.
* * *
Draußen empfing mich ein kalter
Herbstwind und blies mir ins Gesicht. Ohne ein Ziel irrte ich durch die
Straßen, ich hatte nicht einmal eine Idee, wo ich wirklich war. Vorhin war ich
mit Michael im Auto angekommen. Wir hatten am Hinterausgang geparkt und waren
direkt reingegangen. Zu aufgeregt war ich gewesen, um auf den Weg zu achten,
den er hierher genommen hatte.
Ich versuchte, auf der Suche nach
einem Anhaltspunkt, mich an meine vergangene Begegnung mit diesem Ort zu
erinnern. Aber es tat zu weh. Ich konnte einfach nicht daran denken. Feiner
Nieselregen peitschte mir immer wieder ins Gesicht und vermischte sich mit
meinen Tränen zu einem kalten Nass. Es war Herbst und die Blätter der Bäume
raschelten aufgeregt im Wind. Wo sollte ich nur hin? Was sollte ich nur tun?
Was war nur aus meinem Plan geworden? Aus den anderen Kapiteln, die es noch zu
schreiben galt?
Die Protagonistin war klar, aber wie
viele Seiten würde sie noch füllen, bevor sie einen unausweichlichen und
schmerzhaften Tod starb? Und wer würde ihr Beschützer sein? Oder war sie dazu
verdammt, allein auf Erden zu wandeln? Sich einsam den großen Mächten zu
stellen, um am Ende doch zu scheitern?
Fünf Jahre,
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