Schatten ueber Innsmouth
Erklärung war diese nette Dame so freundlich, mich in das verschlossene Gebäude zu führen, da es ja noch nicht allzu spät war. Die Sammlung war wirklich bemerkenswert, doch in meiner gegenwärtigen Stimmung hatte ich nur Augen für das bizarre Objekt, das in einem Eckschrank unter elektrischen Lampen glitzerte. Es hätte gar keiner besonderen Aufgeschlossenheit für schöne Dinge bedurft, um buchstäblich den Atem anzuhalten angesichts der seltsamen, überirdischen Pracht des fremdartigen, verschwenderischen Phantasiegebildes, das dort auf einem purpurnen Samtkissen ruhte. Selbst jetzt kann ich kaum beschreiben, was ich sah, obwohl es ganz offensichtlich eine Art von Tiara war, was ich ja schon aus der Beschreibung wußte. Sie war vorne hoch und hatte eine sehr große und sonderbar unregelmäßige Umfangslinie, so als sei sie für einen Kopf von fast mißgestalteter elliptischer Form bestimmt. Das Material schien überwiegend Gold zu sein, obwohl ein unheimlicher, heller Glanz auf eine ungewöhnliche Legierung mit einem ebenso schönen und kaum identifizierbaren Metall schließen ließ. Sie war nahezu
vollkommen erhalten, und man hätte Stunden mit dem Studium der faszinierenden und merkwürdig unkonventionellen Verzierungen zubringen können, die mit unglaublicher Grazie und Meisterschaft als Hochrelief in das Metall getrieben waren und von denen manche rein geometrische Muster, andere dagegen Darstellungen aus der Meeresfauna waren.
Je länger ich schaute, um so mehr faszinierte mich das Gebilde, und in diese Faszination mischte sich ein seltsam beunruhigendes Element, das kaum zu klassifizieren und zu erklären war. Zunächst dachte ich, es sei der merkwürdig außerirdische Stil, der mich beunruhigte. Alle anderen Kunstwerke, die ich kannte, gehörten entweder zu irgendeinem vertrauten Kulturkreis oder standen als modernistische Experimente in bewußtem Gegensatz zu jeder bekannten
Kunstrichtung. Diese Tiara war keines von beidem. Sie war einerseits ein Produkt einer langen Tradition von unendlicher Reife und Vollkommenheit, doch diese Tradition war andererseits weit von jeder östlichen oder westlichen, antiken oder modernen Kunstrichtung entfernt, von der ich je gehört oder Beispiele gesehen hatte. Es war, als sei sie das Werk der künstlerischen Tradition eines anderen Planeten. Ich bemerkte jedoch bald, daß mein Unbehagen noch eine zweite und vielleicht ebenso starke Ursache hatte, die von den bildlichen und mathematischen Elementen der eigenartigen Verzierungen herrührte. Die Figuren riefen Ahnungen von fernen Geheimnissen und unvorstellbaren Abgründen von Zeit und Raum hervor, und die eintönig aquatische Natur der Reliefs wirkte beinahe bedrückend. Unter den dargestellten Figuren waren monströse Fabelwesen von abschreckender Absurdität und Bösartigkeit halb fischund halb froschähnlich -, bei denen man sich des bedrückenden Gefühls einer unbewußten Erinnerung nicht erwehren konnte, so als riefen sie irgendein Bild aus tiefen Zellen und Geweben wach, deren bewahrende Funktionen ganz und gar urzeitlich und von frühesten Vorfahren ererbt sind. Hin und wieder bildete ich mir sogar ein, jeder einzelne Umriß dieser blasphemischen Froschfische enthalte die letzte Quintessenz unbekannten und unmenschlichen Unheils.
In einem merkwürdigen Gegensatz zu dem Aussehen der Tiara stand ihre kurze und prosaische Geschichte, wie Miss Tilton sie mir erzählte. Sie war im Jahre 1873 für eine lächerliche Summe in einem Laden in der State Street versetzt worden, und zwar von einem betrunkenen Mann aus Innsmouth, der kurze Zeit später bei einer Schlägerei umkam. Die Gesellschaft hatte sie direkt von dem Pfandleiher erworben und sofort in einer ihrer Bedeutung entsprechenden Weise ausgestellt. Als wahrscheinliche Herkunft wurde Ostindien oder Indochina angegeben, obwohl diese Einordnung eingestandenermaßen keineswegs gesichert war.
Miss Tilton, die alle möglichen Hypothesen über die Herkunft der Tiara mit ihrem Auftauchen in Neuengland in Einklang zu bringen versuchte, neigte zu der Annahme, daß sie einen Teil eines exotischen Piratenschatzes bilde, den der alte Kapitän Obed Marsh gefunden haben müsse. Und von dieser Theorie ging sie natürlich erst recht nicht ab, als die Marshes, sobald sie von derAufstellung der Tiara erfuhren, beharrliche Kaufangebote zu einem sehr hohen Preis machten und sie bis in die Gegenwart ständig wiederholten, trotz der unbeirrbaren Ablehnung der Gesellschaft.
Als
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