Schatten über Oxford
nettes, von der Stadt betriebenes Restaurant. In Richtung Innenstadt«, fügte sie hinzu. »Man hat mir gesagt, dass man dort sehr preiswert essen kann.« Ich fragte mich flüchtig, ob sie je selbst dort gegessen hatte. Ich traute ihr eher das große Restaurant im Stadtzentrum zu, an dem ich auf meinem Weg vorbeigekommen war und das teuer aussah.
»Nun, ein Mittagessen für uns drei kann meine Geldbörse bestimmt noch verkraften«, sagte ich mit meiner heitersten Onkel-Stimme und lächelte Chris zu.
Auch die Kinder hatten sich mit an den Tisch gesetzt, ohne allerdings ihre Jacken auszuziehen. Endlich hatte ich Gelegenheit, sie in Ruhe zu betrachten. Wären sie nicht mein Neffe und meine Nichte gewesen, hätten sie mich wahrscheinlich nicht allzu sehr beeindruckt. Chris’ knochige Knie staken unter der Jacke hervor. Sie waren mit Hautabschürfungen und Krusten übersät. Sein Gesicht war winterblass, und seine Mundwinkel hatten Risse. Das Haar hatte man ihm extrem kurz geschnitten. Der kümmerliche Rest war mit Brillantine an den Schädel geklebt, sodass er bereits aussah wie eine nasse Ratte, noch ehe er sich in den Regen hinausgewagt hatte. Außerdem fiel mir auf, dass seine Ohren abstanden. Auch sein Vater hatte diese Ohren gehabt, und plötzlich hätte ich am liebsten geweint. Harry ist tot, dachte ich, und alles, was mein kleiner Bruder mir als Erinnerung zurückgelassen hat, sind die Ohren seines Sohnes. Ich schnäuzte mir die Nase und widmete mich wieder meinem Korinthenbrötchen.
Im Gegensatz zu ihrem dünnen Bruder Chris zeigte Susie eher eine Anlage zur Pummeligkeit. Auch ihre Mutter war rundlich gewesen, ehe die Tuberkulose zuschlug. Sonst allerdings fielen mir an dem Mädchen kaum Ähnlichkeiten mit Sheila oder Harry auf. Vielleicht lag es daran, dass Susie irgendwie noch ungeformt wirkte und sich ihre Gesichtsknochen unter einer weichen Schicht Babyspeck verbargen. Ihre Ohren steckten unter einer Wollmütze, doch ich nehme an, sie standen ab, genau wie die von Chris, Harry und mir. Ihr Gesicht war ebenso blass wie das von Chris, bis auf die glühende Knopfnase. Das arme Kind schien eben erst einen Schnupfen überstanden zu haben. Ihre kurzen, plumpen Beine wölbten sich über den Strumpfhaltern. Sie ließ sie baumeln und gegen die Stuhlbeine schwingen. Doch erst als ich ihre Hände mit den kurzen Fingern, den dicken Wülsten an den Fingerspitzen und den wie bei Harry – und leider auch bei mir – bis auf die Nagelhaut abgekauten Nägeln bemerkte, wurde mir klar, dass jeder Zoll an ihr mein Fleisch und Blut war, genau wie Chris. Die Erkältung war noch nicht ganz abgeklungen, denn sie zog die Nase hoch.
»Benutze bitte dein Taschentuch, wie ich es dir gezeigt habe, Susan.« Zwar sprach Miss Marlyn mit sanfter Stimme, trotzdem gefiel mir ihre Zurechtweisung nicht. Harry und Sheila hatten ihren Kindern schließlich beigebracht, wie man sich die Nase putzt. Am liebsten hätte ich Miss Marlyn darauf hingewiesen, dass sie es hier beileibe nicht mit Kindern aus der Unterschicht zu tun hatte. Doch Susie zog gehorsam ihr Taschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich, also sagte ich lieber nichts.
Wenn die Familie Barnes ebenfalls Ahnenporträts gehabt hätte, wie hätten sie wohl ausgesehen? Blasse, spitze Gesichter, Ohren wie Henkel, kurze Hände mit abgekauten Nägeln und rote Nasen. Unwillkürlich musste ich lächeln, und in meinem Herzen regte sich … beinahe hätte ich gesagt: Liebe, doch wer bin ich schon, ein solches Wort überhaupt zu benutzen?
Susie lebte langsam ein wenig auf, weil sie sich allmählich wieder an mich gewöhnte. Ihr Gesicht schien das Lächeln eher zu kennen als das von Chris.
»Weißt du noch, wie du früher auf meiner Schulter geritten bist?«, fragte ich sie.
»Ja«, flüsterte sie, obwohl ich bezweifele, dass sie sich wirklich erinnerte.
»Ich kann mich erinnern, dass wir Fußball gespielt haben«, sagte Chris. Ich bin sicher, dass er an seinen Vater dachte.
»Und wie geht es ihrer Mutter?«, erkundigte sich Miss Marlyn, als hätten die Kinder keine Ohren. Sheila wollte nicht, dass sie erfuhren, wie schlecht es ihr diesen Winter gegangen war, und ich konnte sie darin nur unterstützen.
»Ganz gut«, erklärte ich fröhlich.
»Dann können wir sicher bald nach Hause«, sagte Chris. Miss Marlyn sah aus, als hätte sie am liebsten dasselbe gesagt, wäre aber zu höflich, es wirklich zu tun.
»Sie muss erst wieder zu Kräften kommen«, wandte ich ein. »Sie ist noch
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