Schatten über Sanssouci
Quantz eingefallen war, es auf dem Cembalo
im Arbeitszimmer zu spielen. Voller Freude über das Ergebnis war der Lakai im
Zimmer herumgetanzt. Und Quantz erkannte, dass diese Art des Melodienerfindens
sehr inspirierend war.
»Willst du wissen,
wie das hier klingt?«, fragte er und deutete auf das Thema, über dem er seit
Stunden grübelte und das einfach nicht in die herrliche Form kommen wollte, die
ihm beim Abendessen vorgeschwebt hatte.
Andreas schien ihn
nicht gehört zu haben. Er hatte schon zur Feder gegriffen. Akkurat tauchte er
sie in das Tintenfass und ließ sie über dem Papier schweben, als müsse er einen
Moment überlegen.
Quantz verließ die
Hoffnung, dass ihm Andreas mit seinem seltsamen Hang zur Kombinatorik bei dem
Konzert weiterhelfen könnte. Jetzt wirkte er, als wolle er den
Kammerkomponisten des Königs nur nachahmen. Er hatte wahrscheinlich Quantz vom
Fenster aus schon eine ganze Weile beobachtet und imitierte nun seine Gesten.
Seine Arbeit an dem Stehpult. Quantz benutzte es, seit ihn zwischen Hüfte und
Schulterblättern gelegentlich heftige Schmerzen heimsuchten.
Andreas wandte sich
um und lächelte.
Er war vielleicht
wirklich nur ein Idiot. Ein Idiot, in dem ein Talent schlummerte, wenn er bei
Verstand wäre. Doch nun hing die Begabung unbenutzbar im leeren Raum – ohne
Anleitung der Vernunft.
Mitleid erfasste
Quantz. Am besten, er übergab den Jungen der Wache. Wenn man sich nachts auf
die schnurgeraden Straßen von Potsdam wagte, traf man unweigerlich innerhalb
von Minuten eine der Patrouillen, die nach einem festen System die Stadt
durchschritten. Nur Andreas gelang es offenbar, ihnen zu entgehen. Hoffentlich
wurde er nicht zu streng bestraft.
Quantz ging ans
Instrument, um Andreas das missglückte Thema vorzuspielen. Seine Hand lag schon
auf den Tasten, und in seinem Rücken meldete sich der altbekannte Schmerz, da
begann die Feder zu kratzen.
Quantz richtete sich
auf. Andreas schrieb konzentriert etwas auf das Notenpapier. Neugierig kam
Quantz näher.
Es war nicht sein
Thema, das da stand, es war … Das war unmöglich. Das konnte nicht sein!
»Was schreibst du
da?« Eine dumme Frage, denn er wusste es ja.
Andreas wirkte, als
habe man ihn gewaltsam aus einem Traum aufgeweckt. Er sah Quantz böse an und
bedeckte mit der Hand, was er geschrieben hatte.
»Woher kennst du
das?«
Und wieso war
Andreas in der Lage, fehlerfrei Noten aufzuschreiben, die zuletzt vor einem
Jahr erklungen waren? Doch da hatte sich Andreas von dem Pult gelöst. Quantz
kam näher, während der Junge, das Blatt festhaltend, zum Fenster zurückwich.
»Gib mir das«, sagte
Quantz.
Andreas’ schwarze
Augen fixierten ihn. Er griff nach dem Zettel, doch Andreas zog ihn weg, langte
nach hinten und öffnete mit überraschender Geschicklichkeit das Fenster.
Er wird sich
hinausstürzen, dachte Quantz.
Er packte Andreas am
Arm und entriss ihm das Blatt.
Dann spielte ihm
seine Neugierde einen Streich. Er wollte prüfen, ob er richtig erkannt hatte,
was da stand, und hielt das Papier kurz ins Licht.
Schnell wie ein
wildes Tier war Andreas über die Fensterbank geklettert. Laub raschelte. Ein
Ast krachte.
Quantz blickte
hinaus, nach unten, wo sich im matten Licht einer Öllampe auf der Straße das
schwarze Wasser des Kanals spiegelte. Andreas’ Gestalt tauchte im Lichtkegel
auf, dann war sie verschwunden. Seine Schritte verhallten.
Quantz lief zur Tür
seiner Stube. Viel zu lange dauerte es, bis er die Treppen hinuntergepoltert
war und im dunklen Flur den Schlüssel vom Haken genommen hatte.
Er schloss die
Haustür hinter sich und rannte in die Richtung, in die Andreas verschwunden
war.
***
Die Wache!
Der Mann drückte
sich tiefer in den Hauseingang und lauschte auf die Schritte, die sich
unbarmherzig näherten.
Die Holztür hinter
ihm hing schief in den Angeln und drohte herauszufallen. Er drehte sich um und
tastete sich an dem verfaulten Holz vorbei.
Das alte Gebäude war
ein gutes Versteck. Es wurde gerade abgerissen, um Platz für die neuen Häuser
zu schaffen, die der König in seiner Residenzstadt haben wollte. Eines davon
war bereits fertig und stand auf der anderen Seite des Kanals – gleich an der Abzweigung
zur schrägen Straße, die zum Bassin hinüberführte.
Dort wohnte der
königliche Musiker Johann Joachim Quantz. In der oberen Etage brannte Licht. Ab
und zu konnte man sehen, wie der Musikmeister in seinem Arbeitszimmer
umherging.
Der Mann hatte beobachtet,
wie der Lakai Andreas
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