Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
gewesen und habe ihn dort nur vergessen. Außen ist er wie Thursens alter Mantel, dunkelgrauer Wollstoff. Aber das Futter ist nicht nebelgrau, sondern bunt, schillernd, voller Farben.
Ich schiebe meine Hände unter seinen offenen Mantel. Wage mich dann weiter vor, lasse meine Hände unter seinen Pullover gleiten und genieße seine warme, glatte Haut. Als er meine Finger spürt, fühle ich, wie er zurückzuckt, ganz kurz nur. Dann atmet er wieder gleichmäßig, aber ich habe es trotzdem bemerkt.
«Was ist?», frage ich. Erstarre in meiner Bewegung. Mag er nicht mehr angefasst werden?
«Kalt.» Er lächelt, zieht die Schultern hoch, als wollte er ganz in seinen Mantel kriechen.
«Tut mir leid.» Ich nehme meine Hände weg, hauche hinein und reibe sie aneinander.
«Ich bin selbst schuld», sagt er und kniet sich vor seinen Rucksack.
Ich reibe fröstelnd meine Oberarme und sehe zu, wie er die Gläser und die Flasche sorgsam verstaut. «Wieso?»
«Hier am See ist es arschkalt», sagt er, während er den Rucksack zumacht. «Und ich bringe Saft mit. Ich hätte lieber Glühwein einpacken sollen.» Er richtet sich auf, wirft sich den Rucksack, in dem die Gläser leise klirren, über die Schulter und kommt wieder zu mir. Streicht mir mit dem Finger sanft über die Wange.
Diesmal zittere ich. Die Berührung hinterlässt eine eisige Spur in meinem Gesicht. «Deine Hände sind auch nicht viel wärmer.»
Er nimmt mich bei den Schultern und lehnt seine Stirn an meine. «Gehen wir zu mir», sagt er. Atmet hauchfeine weiße Wölkchen in die Winternacht. «Wir beide brauchen jetzt sofort etwas Heißes zu trinken.»
Ich nicke und küsse ihn. Er erwidert meinen Kuss und lächelt mir zu, denn er weiß, dass ich damit nicht nur zu einem heißen Tee ja gesagt habe. Wir beide wissen schon lange, wie unser neues Jahr beginnen soll. Wir wollen unsere Liebe feiern, denn sie ist das Wichtigste, was wir haben im neuen Jahr. Diesmal werden wir nicht im letzten Moment voreinander davonlaufen, weil wir noch viel zu viel mit uns selbst zu tun haben, um uns auf den anderen ganz einlassen zu können. So lange haben wir gewartet auf die Nacht, unsere Nacht, in der wir die Seele endlich frei haben nur für uns zwei. Die Nacht, in der wir unsere Sorgen in den Himmel schießen. Die Neujahrsnacht.
Heute Nacht.
Jetzt.
Ich schließe die Augen und sehe Thursens Zimmer vor mir. Unbetreten und unverändert nach seinem Verschwinden, kehrt jetzt ganz langsam das Leben in den Raum zurück. Stifte und Hefter liegen auf dem Schreibtisch. Da ist das getragene T-Shirt über dem Stuhl, in dem noch sein Duft hängt. Der Raum wacht auf wie eine Schildkröte, die nach langem Winterschlaf vorsichtig Kopf und Beine aus dem Panzer streckt. An der Wand hängt ein Posterkalender, und auf seinem Bett liegt eine neue Überdecke. Vor ein paar Tagen erst haben wir dort gesessen, aneinandergekuschelt, und Musik gehört. Bis ich gegangen bin. Wieder einmal.
«Und?»
Als ich die Augen öffne, sehe ich ihn und nur ihn. Mir ist einen Augenblickssplitter lang, als sei ich noch dort, auf seinem Bett, ahne seinen Geschmack auf meiner Zunge und spüre ein sehnsüchtiges Echo von seinem Arm um meine Schultern. «Hört sich gut an.»
«Dann komm.» Er tupft mir einen Kuss auf die Nasenspitze und hält mir seine Hand hin. Ich greife sie und fühle sie fast gar nicht, so taub sind meine Finger. Hand in Hand machen wir uns auf den Heimweg.
Ich kann die dunklen Baumstämme erkennen, aber nicht den Weg dazwischen. Doch Thursen bewegt sich sicher wie am Tag. Es ist, als seien die Wälder ein Teil von ihm. Nicht nur der Grunewald. Seit er wieder bei seinem Vater wohnt, ist er auch im Tegeler Forst, hier im Norden Berlins, zu Hause. Manchmal kommt es mir vor, als würde der Wald zu ihm sprechen, in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Thursen bewegt sich darin so selbstverständlich wie die Rehe, die Füchse. Nie zögert er, nie sucht er seinen Weg, scheint immer zu spüren, in welche Richtung er muss. Ich weiß nicht, wie er es macht. Ich vertraue ihm einfach und versuche zu folgen.
«Immer noch so kalt?», fragt er mich.
Ich nicke. Wir gehen rasch, doch es hilft nichts. Mir wird nicht wärmer. Überall, wo meine Haut nicht vermummt ist, beißt mich die Winterkälte mit spitzen, eiskleinen Zähnen wie ein lästiges Tier. Drängt sich durch meine Jacke und malt Gänsehaut auf meinen Rücken. Thursen bleibt stehen, nimmt meine Hände in seine und haucht hinein. «Besser?»
Es
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