Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
meinen Ärmel, als schlüge ein Wachhund seine Zähne hinein.
«Meinst du, ich kann nicht erkennen, wenn etwas tot ist?»
Etwas. Das ist ein Mensch! Aber natürlich. Er hat, als er noch Werwolf war, mit seinem Rudel oft genug gejagt, um zu wissen, wann etwas tot ist. Und vielleicht muss man die Tiere, die man tötet, ein Etwas nennen, damit man sie nachher essen kann.
«Gehen wir nach Hause, Luisa. Der Mann ist tot. Wir können nichts mehr tun. Und du bist total durchgefroren!»
Thursens Hand lässt meinen Ärmel los, gleitet in einer einzigen schnellen Bewegung meinen Arm entlang und umfasst meine Hand. Will mich mitziehen. Ich stemme mich dagegen. «Aber wir müssen doch wenigstens irgendwem Bescheid sagen!»
Er sieht mich nachdenklich an. Dann lässt er mich los. «Geh nach Hause, Luisa, ich kümmere mich darum. Versprochen! Weißt du, wo du lang musst?» Er leuchtet mit der Taschenlampe zwischen die Bäume. «Dahinten ist der Wanderweg. Hinter der dicken Eiche. Siehst du? Danach halt dich links.» Er lässt meine Hand los. «Geh!», sagt er. Seine Hände zittern fast schlimmer als meine.
Von wegen, dass nur ich aus der Kälte muss. Doch wieder einmal will er mich schützen. Er würde alles tun, damit ich nicht wieder Albträume kriege, lieber bleibt er allein hier und friert sich krank. Ich packe seinen Arm. «Verdammt, wenn du den Toten ertragen kannst, kann ich das auch!»
«Luisa, wir wollten neu anfangen! Warum tust du dir das an? Hast du nicht genug Tote gesehen? Deinen Bruder? Sjöll?»
Ja, der Tod meines Bruders war entsetzlich. Aber wenn ich ihn nicht gesehen hätte, klein und kalt im Krankenhausbett, hätte ich heute noch nicht begriffen, dass er wirklich tot ist. Dass er nie wiederkommt. Sjöll, die Werwölfin, die letztes Jahr von einem Jäger erschossen wurde, habe ich nicht noch einmal gesehen. «Ihr hattet Sjöll schon begraben, als ich ins Lager kam, weißt du nicht mehr?»
Thursen sieht fast so blass aus, wie er es als Werwolf immer war. Er schließt für einen Moment die Augen, nickt. Jetzt zittern nicht nur seine Hände. Und das, was ihn zittern lässt, ist nicht mehr die Kälte allein. Auch er hat seine Probleme mit Toten. Er fand seine tote Mutter, nachdem sie sich das Leben genommen hatte. An einem sonnigen Nachmittag, an dem er Fußball gespielt hatte mit seinen Freunden.
Wenn er noch Werwolf wäre, würde er sich spätestens jetzt verwandeln. Aus seinem Menschsein herausgleiten, um sich im Wolfs-Ich zu verkriechen.
Weil sich ein Mensch im Wald betrunken hat, ins Gebüsch gekrochen und dort erfroren ist. Wie schnell und leise der Tod kommen kann. Nie wieder werde ich die Unbekümmertheit zurückbekommen, mit der meine Mitschüler sich für unsterblich halten. Nur weil sie jung sind. Sterben tun nur alte Leute, denken sie. Thursen und ich wissen, dass es nicht so ist. Wir wissen es ein bisschen zu gut. Wie lange hat unser heiles neues Jahr gedauert? Eine Stunde?
Doch auch diesmal können wir vor der Wahrheit nicht davonlaufen. Ich nehme die Schultern zurück, wecke den Mut in mir. Ich habe Angst, wieder einem Toten ins Gesicht zu sehen. Aber ich werde es überstehen, denn Thursen ist bei mir. Zusammen überstehen wir alles. Ich stapfe auf das Gebüsch zu. Dort liegt nur irgendein fremder, kalter Körper, sage ich mir, nichts weiter. Niemand, den wir kennen.
«Luisa, bitte!»
Ich höre seine Sorge, doch er sorgt sich umsonst. Auch meine Albträume werde ich überleben. Ich leuchte über den Boden und bin nach ein paar entschlossenen Schritten bei dem Erfrorenen.
Er liegt auf dem Bauch, die Arme vor dem Kopf verhakt und die Beine ausgestreckt. Sein kurzgeschnittenes, dunkles Haar steht ihm wirr und zerdrückt vom Kopf ab, Blätter und Zweigstückchen hängen darin. Seine Kleidung ist zerrissen. Der Jackenstoff klafft auf, die Füllung quillt heraus, und an einer Stelle kann man den Pullover darunter sehen. Er muss im Wald herumgekrochen, an Ästen hängen geblieben sein, bevor er starb. Wenn er denn tot ist. Wirklich tot ist. Ich rüttle ihn, doch er rührt sich nicht. «Thursen», sage ich, «hilf mir, ihn umzudrehen. Ich muss ihm ins Gesicht sehen und seinen Puls tasten, damit ich weiß, dass ich ihm wirklich nicht mehr helfen kann.»
Thursen ist neben mir, packt den Toten an der Schulter. «Egal, was du gleich siehst», sagt er, «versprich mir, dass du mich trotzdem noch liebst.»
«Warum sagst du das?»
Thursen antwortet nicht, sondern dreht den Körper mit einem
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