Schattenbluete - Band 2 - Die Waechter
fühlt sich gut an, wie eine winzige Sommerwolke, aber das bisschen Wärme bleibt an den Fingern hängen und dringt nicht bis zu meinem Körper vor.
Thursen lächelt mich aufmunternd an, legt den Arm um mich und zieht mich an sich. Arm in Arm gehen wir weiter. Doch mit einem Mal bleibt er stehen, als sei die Luft aus Glas.
«Was ist?», frage ich.
Ein paar Sekunden verharrt er regungslos wie ein verhoffendes Wild, atmet tief und langsam und lauscht in den Wald hinein.
Dann erwacht er aus der Starre.
«Ich weiß nicht», stößt er hervor. Nimmt wieder meine Hand und zieht mich hinter sich her, schnell, als sei er auf der Jagd. Nach links führt er mich, über verschneite Herbstblätter, die holprigen Boden bedecken. Dann mitten durch kahles Gestrüpp. Bestimmt haben wir längst den befestigten Weg verlassen. Dürre Äste von rechts und links greifen nach meinen Haaren wie Hexenfinger. Zerren an mir. Schaben über meine Jacke, wollen mich halten. Kratzer brennen auf der kalten, bloßen Haut meiner Hände. Doch Thursen kehrt nicht um. Nimmt keinen anderen Weg. Er wird nicht einmal langsamer. Fühlt er denn seine eigenen Schrammen nicht?
«Was suchst du?» Ich ziehe meine Hand aus seiner, fange rasch einen Zweig, den Thursen zur Seite gebogen hat, bevor er mir ins Gesicht schnellt.
«Thursen?»
Er hört nicht. Wie ein Raubtier, das Fährte aufgenommen hat. Doch das ist er nicht mehr. Er ist ein Mensch.
«Lars?», versuche ich seinen richtigen Namen. Laut diesmal.
Er nimmt mich trotzdem nicht wahr. Tritt mit unvermindert schnellen Schritten aus dem Unterholz heraus auf eine Lichtung. Ich folge ihm über den unebenen Boden, knisterndes, fahles, schneebepudertes Wintergras unter den Füßen. Rechts ist ein Wildfutterplatz. Die Rehe, die dort wohl eben noch fraßen, stehen steif wie ausgestopft. Sie starren mit erhobenem Kopf zu uns herüber, angespannt, fluchtbereit. Der Werwolf Thursen hätte sich bestimmt unentdeckt angeschlichen, aber jetzt, wo er Mensch ist? Natürlich haben die Rehe uns bemerkt. Thursens Schritte sind immer noch geschmeidig, aber nicht mehr werwolfleise. Er knistert im Laub, tritt auf knackende Äste. Und mein Getrampel hört man sowieso. Ich bleibe stehen, beobachte fasziniert die scheuen Tiere. Ein ferner Silvesterböller lässt ihre Ohren zucken, aber sie halten den Blick, ganz zitternde Wachsamkeit. Thursen ist schon ein Stück voraus, taucht auf der anderen Seite der Lichtung zwischen die Stämme. Dann ist er verschwunden im Walddunkel. Ich laufe ihm nach, zwischen die Bäume. Hab ich ihn verloren? Dann, ein paar Schritte weiter, entdecke ich ihn. Er ist stehen geblieben neben einem mächtigen, finsteren Baum und flucht leise. Ich bin neben ihm, noch ganz atemlos. «Wo willst du denn hin?», japse ich. Entdecke, warum er flucht. Hier geht es nicht weiter. Meine Finger tasten an dem glatten Draht vor mir entlang, der auf Brusthöhe gespannt den Weg versperrt. Nicht nur ein Draht. Ein Wildzaun aus Knotengitter, aufgestellt, um eine Schonung junger Bäume vor dem Hunger der Rehe zu schützen.
«Holst du mal die Taschenlampe aus meinem Rucksack?», fragt Thursen. Er stützt seine Hände gegen einen der geviertelten Stämme, die als Zaunpfahl dienen. Ich trete hinter ihn, taste nach dem Verschluss des Rucksacks und öffne die Klappe.
«Tut mir leid, Luisa», sagt er zu dem Zaunpfahl vor ihm. «Ich muss was klären. Ich hoffe, ich irre mich.»
«Ich dachte, du hängst mich ab.» Unter den Gläsern, die klirrend aneinanderstoßen, finde ich die metallene Stablampe und reiche sie ihm.
«Es wäre besser, wenn du jetzt nicht hier wärst.» Er schaltet die Lampe ein, und dort, wo er hinleuchtet, bekommt der Wald Farbe. Die Zweige der Nadelbäume erscheinen jetzt grün statt dämmerschwarz. Ein Stück weit hinter dem Zaun wachsen dicht an dicht junge Tannen. Thursen lässt den Lichtkegel den Zaun entlang wandern. Rechts, da hängt langes Gras im Draht. Weiter schickt er das Licht, am gespensterkahlen Holunderbusch vorbei bis zur Eiche. Auch dort ist kein Durchkommen.
«Verdammt!», flucht er.
Er leuchtet nach links. Da ist noch mehr blasses Gras. Er macht ein paar tastende Schritte dorthin, wird schneller. Ich folge ihm, dann entdecke ich die Stelle hinter den dornigen Schlehen, dort, wo der Zaun am Boden liegt. Ein Pfahl ist umgebrochen, wohl kürzlich erst. Das gesplitterte Holz ist noch ganz hell. Tierspuren haben sich vor uns in den Schnee gedrückt, hier am neuen Pfad durch den Zaun.
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