Schattenblume
selbst eine Lesebrille brauchte, 8
immer reizte, sie ihr wieder nach oben zu schieben. Nicht dass Sara den Mut dazu gehabt hätte. Denn so gut wie
Maria über alle und alles Bescheid wusste, so wenig ließ sie
die Leute an sich heran. Sie war verwitwet und hatte keine
Kinder. Ihr Mann war im Zweiten Weltkrieg gefallen. Sie
wohnte auf der Hemlock, zwei Straßen von Saras Eltern‐
haus entfernt. Sie strickte, unterrichtete in der Sonntagsschule und arbeitete Vollzeit auf dem Revier, wo sie sich ums Telefon und den Papierkram kümmerte. All das sagte
allerdings nicht viel über Maria Simms aus. Und doch
hatte Sara das Gefühl, dass es noch mehr gab im Leben die‐
ser Frau von achtzig Jahren, auch wenn Maria die meiste
Zeit davon in dem Haus verbracht hatte, in dem sie zur
Welt gekommen war.
Brad setzte seine Führung durch die Wache fort und
zeigte auf den großen offenen Raum hinter Maria. «Da‐
hinten erledigen die Kriminalbeamten und die Streifen‐
polizisten ihre Arbeit... Telefonanrufe und so weiter. Zeugen befragen, Berichte schreiben, Sachen in den Computer
eingeben, und, äh ...» Er brach ab, als er merkte, dass ihm keiner zuhörte. Die meisten Kinder konnten kaum über
den Tresen sehen. Und selbst wenn – dreißig leere Schreib‐
tische in Fünferreihen, dazwischen verschieden große Ak‐
tenschränke, waren nicht unbedingt ein fesselnder Anblick.
Sara schätzte, die Kinder bereuten bereits, dass sie nicht in
der Schule geblieben waren.
Doch Brad versuchte es weiter. «Ich zeige euch gleich
die Gefängniszellen, wo wir die Verbrecher festnehmen ...
ich meine, nicht wo wir sie festnehmen», er blickte nervös zu Sara. «Also, hier stecken wir sie rein, nachdem wir sie festgenommen haben. Also, nicht hier, sondern ins Ge-fängnis.»
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Schlagartig wurde es still, dann begann plötzlich je‐
mand hinten in der Gruppe zu kichern. Sara, die die meisten der Kinder aus der Kinderklinik kannte, schaffte es, ein
paar von ihnen mit einem strengen Blick zum Schweigen
zu bringen. Um die Restlichen kümmerte sich Maria. Ihr
Drehstuhl ächzte erleichtert, als sie sich aufrichtete und sich über den Tresen beugte. Wie auf Knopfdruck brach
das Kichern ab.
Maggie Burgess, ein Mädchen, das von seinen Eltern
ernster genommen wurde, als ihm gut tat, meldete sich
mit Piepsstimme zu Wort: «Hallo, Frau Dr. Linton.»
Sara nickte ihr zu. «Hallo, Maggie.»
«Ahm», begann Brad wieder. Sein sonst milchweißes
Gesicht war tiefrot angelaufen. Sara entging nicht, dass
sein Blick ein wenig zu lang an ihren nackten Beinen
klebte. «Ihr ... äh ... ihr kennt ja alle Dr. Linton.»
Maggie verdrehte die Augen. «Natüüürlich», sagte sie,
und ihr respektloser Ton brachte wieder ein paar Kinder
zum Lachen.
Doch Brad fuhr unbeirrt fort. «Dr. Linton ist auch die
Gerichtsmedizinerin bei uns in der Stadt, neben ihrer Ar‐
beit als Kinderärztin.» Er schlug einen pädagogischen Ton
an, obwohl mit Sicherheit alle Kinder von Saras zweitem
Standbein wussten. Das Thema wurde an den Wänden der
Schultoiletten ausführlich abgehandelt. «Ich nehme an,
Sie sind dienstlich hier, Dr. Linton?»
«Ja», antwortete Sara. Sie versuchte, wie eine Kollegin
zu klingen, nicht wie die Ärztin, die sich noch gut daran erinnerte, wie Brad früher in Tränen ausgebrochen war,
wenn er nur das Wort Spritze gehört hatte. «Ich bin hier, um mit dem Polizeichef über einen Fall zu sprechen, an
dem wir arbeiten.»
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Maggie sperrte wieder den Mund auf, wahrscheinlich
um zu wiederholen, was ihre Mutter über Saras und Jef‐
freys Beziehung gesagt hatte, doch Maria quietschte mit
dem Stuhl und das Mädchen blieb still. Sara schwor sich, am nächsten Sonntag in die Kirche zu gehen und für Maria
eine Kerze anzuzünden.
Doch Maria klang kaum respektvoller als Maggie, als sie
zu Sara sagte: «Ich werde mal nachsehen, ob Chief Tolliver
Zeit hat.»
«Danke», antwortete Sara und strich den Plan mit der
Kirche.
«Schön, dann ...», begann Brad und wischte noch ein‐
mal über seine Mütze. «Dann lasst uns mal nach hinten
gehen.» Er hielt die Schwingtür auf, um die Kinder durchzulassen, sagte zu Sara: «Ma'am», und nickte höflich, bevor
er seinen Schützlingen folgte.
Sara ging hinüber zu den Fotos an der Wand und be‐
trachtete die vertrauten Gesichter. Bis auf die Zeit am College und am Grady Hospital in Atlanta hatte Sara immer in
Grant County gelebt. Die meisten Männer hier an
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