Schattenfall
Schüler und Freund sein wollte, war so… anders als andere Menschen.
Die Rückkehr des Anasûrimbor war tatsächlich ein Vorbote der Zweiten Apokalypse – die Wahrheit dieser Erkenntnis lag Achamian schwer in den Knochen. Und der Heilige Krieg würde nur das erste große Blutvergießen sein.
Ihm war schummrig geworden, und er fuhr sich sprachlos durch Gesicht und Haar. Erinnerungen an sein früheres Leben gingen ihm durch den Kopf. Er dachte daran, wie er Proyas Algebra beigebracht hatte, indem er Zahlen in den Staub des Gartenwegs schrieb, und daran, wie er vor Xins Landhaus in der prallen Morgensonne ein Buch von Ajencis gelesen hatte. Wie hoffnungslos unschuldig er damals gewesen war, wie rührend schwach und naiv – und doch schon ganz und gar verdorben.
Die Zweite Apokalypse ist da. Sie hat bereits begonnen…
Und er befand sich genau im Zentrum des Unwetters – im Heerlager des Heiligen Kriegs.
Wirre Schatten tobten über die Leinwände seines Zelts, und Achamian wusste mit schrecklicher Gewissheit, dass sich eine unermessliche Gestalt unerwartet in die Welt geschlichen hatte und der Geschichte einen furchtbaren Lauf auf zwingen wollte.
Eine weitere Apokalypse… Und zwar jetzt.
Das war doch Wahnsinn! Das konnte gar nicht sein!
Aber es findet statt.
Einatmen – und langsam ausatmen. Du bist dem gewachsen, Akka.
Du musst dem gewachsen sein!
Er schluckte.
Mach dir die entscheidende Frage klar!
Warum wollen die Rathgeber diesen Heiligen Krieg? Warum wollen sie die Fanim vernichten? Hat das mit den Cishaurim zu tun?
Doch in die Erleichterung darüber, diese Frage klar formuliert zu haben, stahl sich eine weitere Frage, deren Konsequenz zu schmerzlich war, um sie von der Hand zu weisen.
Sie haben Geshrunni direkt nach meiner Abreise aus Carythusal ermordet.
Er dachte an den Mann auf dem Kamposea-Markt – den Mann, der ihm gefolgt zu sein schien und von dessen Gesicht er später gedacht hatte, es wirke wie ausgetauscht.
Folgen sie mir also?
Hatte er sie womöglich zu Inrau geführt?
Achamian hielt inne. Atemlos saß er im Halbdunkel. Das Pergament kribbelte in seiner Linken.
Hatte er sie auch zu ihr geführt…?
Er legte zwei Finger an den Mund, schob sie langsam auf der Unterlippe hin und her und flüsterte: »Esmi…«
Vor Momemns befestigtem Hafen dümpelten miteinander vertäute Vergnügungsgaleeren in der sanften Dünung des Meneanor-Meers. Seit Jahrhunderten war es Brauch, sich zur Sommersonnenwende – dem Fest von Kussapokari – dort draußen zu versammeln. Die meisten Festbesucher gehörten einer der beiden höchsten Kasten an: der Kaste der Kjineta, aus der von alters her die Mitglieder der hochadligen Familien stammten, oder der Priesterkaste Nahat. Männer aus den Häusern Gaunum, Daskas, Ligesseras und viele andere taxierten sich gegenseitig und stimmten ihren Klatsch auf die diffus verästelten Bindungen von Loyalität und Rivalität ab, die alle Häuser miteinander verbanden. Selbst innerhalb der Kasten gab es tausend Abstufungen von Rang und Ruf. Das offizielle Kriterium der Hackordnung war mehr oder weniger klar: die Nähe zum Kaiser, die sich leicht danach bemessen ließ, welchen Posten jemand in der Hierarchie der labyrinthisch strukturierten Ministerien einnahm, und die sich umgekehrt auch daran zeigte, wie nah jemand dem Haus Biaxi stand, dem traditionellen Rivalen des Hauses Ikurei. Doch jedes Haus hatte eine lange Geschichte, und die war mit dem Rang, den die Männer sich untereinander zumaßen, untrennbar verbunden. So erzählte man schon Kindern: »Das da ist Trimus Charcharius. Vor dem musst du dich verbeugen, Herzchen, denn seine Vorfahren sind mal Kaiser gewesen« – und das, obwohl das Haus Trimus beim Kaiser in Ungnade gefallen war und auch vom Haus Biaxi seit unvordenklichen Zeiten geschnitten wurde. Wenn man dieses fein austarierte System um die Parameter Reichtum, Gelehrtheit und Intelligenz erweiterte, wurde das Regelwerk des Jnan, das alle sozialen Beziehungen ordnete, für Außenstehende so undurchschaubar wie es für Insider verwirrend war – ein tückischer Sumpf, der die Dummen rasch verschlang.
Doch das Geflecht aus unzähligen verborgenen Bedeutungen und permanent angestellten Berechnungen engte die auf den Galeeren zum Fest Versammelten nicht ein, denn sie kannten es nicht anders und empfanden das Jnan als so natürlich wie den Lauf der Sternbilder im Jahreskreis. Deshalb ließen sie sich davon auch nicht den Spaß am Feiern rauben. So
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