Schattenfall
er begonnen, sich als Opfer der Welt zu sehen? Wie hatte er ein solcher Narr werden können?
Dreihundert Jahre nach ihrem Verschwinden hatte er, Drusas Achamian, die Rathgeber wiederentdeckt. Zweitausend Jahre nach der Ersten Apokalypse war er es gewesen, der die Rückkehr eines Anasûrimbor miterlebt hatte. Die Schicksalsgöttin Anagkë hatte ihn erwählt, diese Last zu schultern! Es stand ihm nicht zu, nach dem Warum zu fragen. Außerdem konnte ihn das auch nicht von der Last befreien.
Er musste handeln, den richtigen Moment auswählen und nicht einfach nur siegen, sondern seinen Gegner ausschalten. Er, Drusas Achamian, konnte Legionen zu Asche verwandeln, einen Riss durch die Erde gehen lassen, Drachen vom Himmel holen.
Doch kaum sah er wieder aufs Pergament, öffnete sich mitten in seiner flüchtigen Entschlossenheit ein großes Loch – der Reglosigkeit vergleichbar, die den kleinen, sich in Ringen ausbreitenden Wellen auf der Oberfläche eines Teichs unerbittlich folgt, sie immer flacher werden und schließlich verschwinden lässt. Und im Kielwasser dieser Leere meldeten sich Stimmen aus seinen Träumen, nagten vage erinnerte Gesichter an ihm, breitete sich stumme Trauer wie Mehltau aus…
Er hatte die Rathgeber wiederentdeckt, wusste aber nichts von ihren Plänen und hatte keine Ahnung, wie er sie erneut finden sollte. Er wusste nicht einmal, wie der Kaiser sie überhaupt ausfindig gemacht hatte. Sie verbargen sich auf unbekannte Weise. Die zaghafte Linie, die DIE RATHGEBER mit DER KAISER verband, hatte bloß eine formale, aber noch keine inhaltliche Bedeutung. Und falls die Rathgeber den Kaiserhof mit diesem… diesem Hautkundschafter unterwandert hatten, konnte er nur vermuten, dass auch alle Großen Gruppen und sogar das ganze Gebiet der Drei Meere gleichermaßen unterwandert waren – vielleicht sogar der Orden der Mandati.
Ein Gesicht, das sich so öffnete, wie zitternde Finger den Blick auf eine enthäutete Handfläche freigaben. Wie viele von ihnen mochte es geben?
Plötzlich schienen DIE RATHGEBER, die so fern von den anderen Namen auf dem Pergament gestanden hatten, mit ihnen allen entsetzlich eng verbunden. Achamian begriff, dass die Rathgeber nicht einfach nur die Großen Gruppen unterwandert, sondern sich einzelner Menschen bemächtigt hatten – mitunter so sehr, dass sie mit ihnen identisch geworden waren. Wie sollte man einen solchen Feind bekämpfen, ohne zugleich gegen die anzutreten, deren er sich bemächtigt hatte? Würde Achamian also gegen alle Großen Gruppen kämpfen müssen? Soweit er wusste, beherrschten die Rathgeber das Gebiet der Drei Meere bereits und duldeten die Mandati nur als ohnmächtige Widersacher – als Witzfiguren! –, um das Bollwerk der Unkenntnis, das sie schützte, weiter auszubauen.
Wie lange lachen sie schon? Und wie weit sind sie mit ihrem Zerstörungswerk gekommen?
Ob sie sich sogar des Tempelvorstehers bemächtigt hatten? Ob der Heilige Krieg als sein wichtigstes Projekt auf die Machenschaften der Rathgeber zurückzuführen war?
Die Vorstellung, welch erschreckende Auswirkungen das hätte, ließ ihn vor Angst schwitzen. Ereignisse, die er bisher für unverbunden gehalten hatte, ergaben nun eine Textur, die viel dunkler war, als er sich das zuvor in seiner Unwissenheit ausgemalt hatte – so wie es mitunter möglich ist, verstreute Überreste plötzlich intuitiv untergegangenen Befestigungen oder Tempeln zuzuordnen. Geshrunnis verschwundenes Gesicht. Hatten die Rathgeber den Mann umgebracht? Hatten sie sein Gesicht geraubt, um es bei einem ekelhaften Austauschritual einem andern aufzuziehen? War ihr abgefeimter Plan nur davon durchkreuzt worden, dass die Scharlachspitzen Geshrunnis Leiche direkt nach dem Mord entdeckt hatten? Und falls die Rathgeber von Geshrunni wussten: Hieße das nicht auch, dass sie vom geheimen Krieg zwischen den Scharlachspitzen und den Cishaurim Wind bekommen hatten? Und würde das nicht wiederum erklären, wie auch Maithanet vom Krieg hatte wissen können? Würde es vielleicht auch Inraus Tod erklären? Wenn der Vorsteher der Tausend Tempel ein Kundschafter der Rathgeber war… Wenn die Prophezeiung des Anasûrimbor…
Er sah wieder auf das Pergament, auf den Namen
ANASÛRIMBOR KELLHUS,
der noch immer unverbunden, wenn auch in beunruhigender Nähe zu DIE RATHGEBER dastand. Er hob die Feder und wollte beide Namen schon mit einer Linie verbinden, zögerte dann aber und legte den Kiel hin.
Dieser Kellhus, der sein
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