Schattenfluegel
war traurig bei dem Gedanken daran, wie unglücklich Nina gewesen sein musste, als er sie zurückgewiesen hatte.
Frau Keller nickte. »Und darum musste sie sterben. Er hat dir das ja alles schon selbst erzählt, Kim. Er muss irgendwie herausgefunden haben, dass Nina sich an dem besagten Tag, an dem sie starb, mit Lukas im Waldschlösschen treffen wollte. Er ist ihr gefolgt und kam dort an, kurz nachdem Lukas wieder weg war. Wir haben die Geschehnisse inzwischen recht gut rekonstruieren können. Lukas und Nina haben sich in der Ruine getroffen und geredet. Dabei hat Nina dieses Video mit ihrem Handy gemacht. Danach hat sie sich selbst aufgenommen.« Während sie sprach, hatte Frau Keller ihr eigenes Smartphone aus der Tasche geholt und auf den Tisch gelegt. »Ich habe hier eine Kopie dieser Aufnahme. Ich denke, Sie wollen sie sehen, oder?«
Kim starrte auf das moderne Gerät, das so ganz anders aussah, als ihr eigenes altes Handy. Sie schluckte. Unsicher sah sie Johanna an.
Die rieb sich über das Gesicht. Ihre Finger zitterten. »Zeigen Sie es uns!«, forderte sie Frau Keller auf.
Die Kommissarin drückte ein paarmal auf dem Touchscreen herum und dann erschien, gestochen scharf, der Film, den Kim schon zur Hälfte kannte.
Gemeinsam sahen sie noch einmal, wie Lukas versuchte, Nina klarzumachen, dass er sie nicht liebte. Aus den Augenwinkeln beobachtete Kim ihre Mutter, während der Film lief. Johanna hatte Tränen in den Augen und musste sie mehrfach wegblinzeln. Trotzdem ließ sie den Blick nicht von dem kleinen Bildschirm.
Kim tastete nach ihrer Hand und hielt sie fest.
Gemeinsam schauten sie das Video bis zu der Stelle, an der Lukas fortging.
»Tja«, erklang dann Ninas traurige Stimme und das Bild schwenkte auf ihr Gesicht.
Johanna sog zitternd Luft durch die Zähne, als sie ihre tote Tochter so lebendig vor sich sah.
Frau Keller stoppte die Aufnahme. »Wollen wir eine Pause machen?«, fragte sie fürsorglich.
Doch Johanna wischte sich über die Augen und sagte bestimmt: »Nein! Lassen Sie es weiterlaufen!«
Kim spürte, dass sie selbst kurz davor war zu weinen. Sie presste die Lippen zusammen und konzentrierte sich auf das, was Nina nun sagte.
»Sieht so aus, als wär’s das gewesen. Vielleicht hat der Blödmann ja doch recht gehabt. Libellen als Zeichen für weibliche Reinheit. So ein Quatsch!« An dieser Stelle schniefte Nina leise und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. »Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, Sigurd hat einen Knall. Zum Glück ist er im Moment in Amerika. Irgendwie ist er mir unheimlich. Libellen!« Im Hintergrund war ein Geräusch zu hören. Es klang, als hielte draußen vor dem Waldschlösschen ein Auto an. Nina schaute zur Seite. Als sie den Blick wieder auf die Kamera richtete, weinte sie. »Ach, Scheiße!«, sagte sie noch. Dann endete die Aufnahme.
Eine Weile war es sehr still in der Küche. Kim und Johanna hatten sich aneinandergelehnt. Jetzt umarmten sie sich und weinten.
Frau Keller wartete geduldig und trank ihren Latte macchiato. Als beide sich ein wenig beruhigt hatten, sprach sie weiter: »Nachdem sie dieses Video aufgenommen hat, muss sie dich angerufen haben, Kim. Das war der Anruf, den du nicht angenommen hast, am Sonntagnachmittag. Sie hat auf deine Mailbox gesprochen, danach muss sie das Handy in ihrem Geheimversteck hinter dem Hirschgeweih verborgen haben. Sie hat offenbar öfter Dinge dort versteckt und vermutlich wusste sie schon lange vor dem Treffen mit Lukas, dass er sie abweisen würde.«
Kim sah sie an. »Warum?«
»Sie hat das Gedicht ein paar Tage vor ihrem Tod geschrieben und sie schreibt von den Wolfskrallen, die ihr ins Herz geschlagen wurden. Das deutet auf Lukas hin.«
Kim dachte an den wolfsartigen Ausdruck in Sigurds Gesicht, den sie gesehen hatte. Sie war sich inzwischen nicht mehr ganz so sicher, ob Nina in ihrem Gedicht wirklich von Lukas gesprochen hatte, aber das war jetzt auch egal. Sie nickte. »Ja. Kann sein.«
Seufzend lehnte Frau Keller sich zurück. »Wie dem auch sei! Jetzt haben wir Sigurd sicher in Verwahrung. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir alle Beweise für den Prozess zusammengetragen haben, aber eins ist sicher: So schnell wird er nicht wieder freikommen.«
Johanna wirkte einen Moment lang sehr verloren. Doch dann lächelte sie. Es war ein grimmiges Lächeln. »Gut.« Sie schaute auf den unangetasteten Keks auf dem Tisch, nahm ihn erneut und steckte ihn ganz in den Mund. Mit großer Wucht biss sie darauf
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