Schattenfreundin
und ein Liegestuhl standen gleich links von der Terrassentür, rechts hinten, dort, wo der etwas tiefer liegende Garten begann, stand eine Regentonne. Durch das offene Fenster des kleinen Nebenzimmers drang irgendein nerviges Gedudel. Sie hatte den CD-Player angestellt, weil sie hoffte, dass Klaus sich dadurch wieder beruhigen würde. Es schien zu klappen, denn seine gepressten Rufe wurden immer leiser.
Während Käfer das Haus durchsuchte, überlegte sie fieberhaft. Wo würde man hier eine Leiche verstecken? Sie überprüfte die Blumenbeete, die sich an drei Seiten um die Terrasse herumzogen. Nein, dort war nirgendwo gegraben worden, die Erde wies keinerlei frische Spuren auf.
Hätte Tanja überhaupt Zeit genug gehabt, um ein Grab zu schaufeln? Wohl kaum. Zwischen dem letzten Anruf von Katrin Ortrup und dem Auffinden von Leo lag höchstens eine Dreiviertelstunde.
Unruhig ging sie auf der Terrasse hin und her. Dumpf klangen ihre Schritte auf den Holzbohlen. Und wenn Frau Ortrup irgendwo im Wald lag? Er begann gleich hinter dem Grundstück. Die Bäume wuchsen so dicht, dass sie wie eine undurchdringliche Wand wirkten. Sobald die Verstärkung da war, müsste die sich darum kümmern. Es hatte keinen Sinn, dass sie alleine loslief und suchte.
Sie wollte schon von der Terrasse hinunter in den Garten gehen, da blieb sie irritiert stehen. Irgendetwas war anders. Sie drehte sich um und ging zurück, dann trat sie wieder an den Rand der Terrasse. Ihre Schritte klangen auf einmal nicht mehr dumpf, sondern heller …
»Peter!«, rief sie. »Komm schnell! Ich weiß, wo sie ist!«
Ihr Kollege stürzte aus dem Haus. »Wo?«
Charlotte runzelte irritiert die Stirn und hob die Hand. »Sei mal still! Was ist das für eine Melodie?«
Leise drang eine Tonfolge an ihr Ohr. Irgendein moderner Rhythmus …
Käfer zuckte die Achseln. »Was weiß ich. Mit Kindermusik kenne ich mich nicht aus.«
»Nein, nein, nicht die CD! Hörst du das denn nicht?!« Charlotte ließ sich auf die Knie fallen, beugte sich vor und legte das Ohr an die Bohlen. »Das kommt von hier unten! Diese Melodie … Die hab ich schon mal gehört! Aber wo? Diese arrhythmischen Töne … Das ist … ein Handy! Peter, das ist das Handy von Katrin Ortrup!«
»Die Regentonne!« Käfer stürzte dorthin. Gott sei Dank war nur wenig Wasser drin, sodass er sie mit einem kräftigen Ruck zur Seite ziehen konnte.
Lose Holzplanken kamen zum Vorschein. Sie ließen sich auf die Knie fallen, packten die Bohlen, hoben sie an und schoben sie zur Seite …
Zu spät. Sie waren zu spät gekommen. Das war das Erste, was Charlotte durch den Kopf ging.
Vor ihnen lag Katrin Ortrup. Leichenblass, den Mund weit aufgerissen, die Augen geschlossen.
Erst als sie tief durchatmete, spürte Charlotte, wie sehr sie zitterte. Sie beugte sich vor und legte Katrin Ortrup die Finger an die Halsschlagader.
Dann schloss sie die Augen und wartete.
Plötzlich legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
EPILOG
Während Charlotte auf das Seniorenheim zuging, dachte sie wieder an die Szene, die sich auf der Holzveranda hinter der alten Jagdhütte abgespielt hatte.
Katrin Ortrup lebte. Sie waren doch nicht zu spät gekommen.
Der Notarzt hatte die Blutung stoppen können, dann hatten die Sanitäter Frau Ortrup vorsichtig auf die Trage gelegt und in den Notarztwagen gebracht.
Dort hatte sie plötzlich die Augen aufgeschlagen.
»Leo«, hatte sie geflüstert. »Thomas …«
Charlotte würde nie vergessen, wie Leo und Thomas Ortrup ihr weinend einen Kuss gaben. Nie zuvor hatte sie drei Menschen gesehen, die so glücklich waren, so unendlich froh, dass sie sich nicht verloren hatten. Charlotte war sich sicher, dass die kleine Familie stark genug sein würde, einen Neuanfang zu schaffen.
In diesem Augenblick verspürte sie tief in ihrem Innern etwas ganz Fremdes – die Sehnsucht nach einer eigenen Familie.
Wer würde nach ihr suchen, wenn sie verschwinden würde? Und wer würde vor Glück weinen, wenn sie dann gefunden würde? Oder wenn nicht – wer würde an ihrem Grab stehen und trauern? Bernd? Er würde ihre Weigerung, sich auf eine enge Beziehung einzulassen, auf Dauer nicht mitmachen. Ihre Geschwister? Zu denen hatte sie seit Jahren nur wenig Kontakt. Philipp hatte sie das letzte Mal auf Opas Trauerfeier gesehen. Und ihre Mutter? Die noch nicht mal zur Beerdigung ihres eigenen Vaters gekommen war?
Sie betrachtete die Geschenkpackung mit Marzipanpralinen, die sie in der Hand hielt. Früher hatte
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