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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Die Eberesche
    IM BRUNNENHOF SCHIMMERTE die Märzsonne durch das junge Grün der Eschen und Ulmen, und das Wasser des Brunnens stieg und fiel im Spiel des Lichtes mit dem Schatten. Der offene Innenhof war von vier hohen Steinmauern umgeben. Dahinter befanden sich Räume und andere Innenhöfe, Durchgänge, Flure, Türme und eine wuchtige Außenmauer, die das Großhaus von Rok umgab. Diese Mauer trotzte jedem feindlichen Angriff, jedem Erdbeben und jeder Meeresflut, denn sie war nicht nur aus Stein gebaut, sondern mit mächtigen magischen Formeln verstärkt. Denn Rok ist die Insel der Weisen, wo die Kunst der Magie gelehrt wird, und das Großhaus ist Schule und zugleich Hauptsitz der Magie; das Herz des Hauses aber bildet dieser kleine Innenhof, der tief im Innern des Palastes verborgen liegt, wo der Brunnen plätschert und Bäume im Regen, in der Sonne und unter den Sternen wachsen.
    Unmittelbar neben dem Brunnen stand eine kräftige Eberesche, deren Wurzeln die Marmorplatten hochgedrückt und zum Teil aufgebrochen hatten. Ein Rasenstreif umgab den Brunnen, und helles, grünes Moos zog sich wie Adern durch die Sprünge im Marmor. Ein Junge saß auf einer der niedrigen Erhöhungen aus Marmor und Moos, sein Blick ruhte auf dem aufsteigenden Strahl des Brunnens. Er schien dem Mannesalter nahe zu sein, war aber noch ein Jüngling, schlank und kostbar gekleidet. Sein Gesicht war ruhig und glich einer fein ziselierten, vergoldeten Bronzemaske.
    Ungefähr fünf Meter hinter ihm, unter den Bäumen auf der anderen Seite des Rasens, stand ein Mann – so schien es wenigstens. Im flimmernden Wechsel zwischen Licht und Schatten war er schwer zu erkennen. Doch er befand sich tatsächlich dort, ein weißgekleideter, regungslos stehender Mann. So wie der Junge auf den Strahl des Brunnens schaute, blickte der Mann auf ihn. Keine Bewegung, kein Laut war zu vernehmen, nur das Rascheln der Blätter, das Spiel des Wassers und sein unaufhörlicher Gesang.
    Der Mann bewegte sich vorwärts. Ein Wind raunte in der Eberesche und bewegte die jungen Blätter stärker. Der Junge, überrascht, sprang mit einer federnden Bewegung auf. Er drehte sich dem Mann zu und verbeugte sich vor ihm: »Ehrwürdiger Erzmagier!« sagte er.
    Der Mann, eine aufrechte, kräftige, nicht allzu große Gestalt, in einen weißen Wollumhang mit Kapuze gehüllt, blieb vor ihm stehen. Über den Falten der zurückgelegten Kapuze erhob sich ein kupferbraunes Gesicht mit einer Adlernase; eine Wange zeigte die Spuren alter Narben. Die Augen blickten aufmerksam und durchdringend. Doch seine Stimme war sanft: »Im Brunnenhof sitzt es sich angenehm«, sagte er und nahm die Entschuldigung des Jungen vorweg. »Weit her bist du gekommen, und keine Rast war dir vergönnt. Setz dich wieder hin!«
    Er kniete sich am weißen Rand der Brunnenschale nieder und streckte seine Hand gegen den Kranz glitzernder Tropfen aus, die von der oberen Marmorschale fielen. Das Wasser glitt durch seine Finger. Der Junge setzte sich wieder auf die erhöhten Marmorplatten, und beide schwiegen eine Weile.
    »Du bist der Sohn des Prinzen von Enlad und des Inselreichs der Enladen«, sagte der Erzmagier. »Du bist der Erbe des Fürstenreichs von Morred. In der ganzen Erdsee gibt es kein Haus, das älter und berühmter ist als dieses. Ich sah die Obstgärten von Enlad im Frühling und die goldnen Dächer von Berila. Wie heißt du?«
    »Man nennt mich Arren.«
    »Das Wort ist der Mundart deines Landes entnommen. Was bedeutet es in der allgemeinen Sprache?«
    »Schwert«, antwortete der Junge.
    Der Erzmagier nickte. Wieder schwiegen sie. Dann sprach der Junge, nicht kühn, doch auch nicht schüchtern: »Ich glaubte, daß der Erzmagier alle Sprachen kennen würde.«
    Der Mann schüttelte den Kopf und betrachtete den Brunnen.
    »Und alle Namen …«
    »Alle Namen? Nur Segoy, der das Erste Wort gesprochen und die Inseln aus der Tiefe des Meeres gehoben hat, nur er wußte alle Namen. Jedoch …« – und der helle, durchdringende Blick richtete sich wieder auf Arrens Gesicht –, »wenn es nötig wäre, deinen wahren Namen zu wissen, dann könnte ich ihn herausfinden. Doch es ist nicht nötig, ich werde dich Arren nennen, und ich bin Sperber. Erzähl mir, wie die Reise hierher war.«
    »Zu lang.«
    »Die See stürmte?«
    »Die Winde bliesen sanft und stetig, doch bringe ich ungute Kunde, ehrwürdiger Herr!«
    »Erzähle sie mir«, sagte der Erzmagier ernst, doch er sprach wie einer, der einem ungeduldigen Kind

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