Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
miteinander verbundene Boutiquen und schlüpfte durch den Westausgang wieder ins Freie. Ich befand mich nun in einer Parallelstraße, die ausschließlich aus Cafés bestand. Fünf davon ließ ich hinter mir, um die Tür zum Café Endlos zu öffnen. Ging durch den Raum in den Hofgarten, an den Bierbänken vorbei, über den Rasen. Zum Hinterausgang. Man kommt überall durch die Liefereingänge hinein oder heraus, man darf nur nicht zögern, auf keinen Fall suchend hin- und herblicken, man muss einfach nur geradeaus gehen, sonst wird das Personal aufmerksam.
Hinter dem Endlos lag eine ruhige Straße mit restaurierten Altbauten und hohen Akazien, die zum Eingang des Stadtparks führte. Dort stand eine Litfasssäule, an der ich schnell vorüber ging. An der Säule klebte ein Plakat mit Pollys Gesicht und ihrer Personenbeschreibung. Ihr schwarzes Haar war damals noch lang. Sie lächelt. Als das Foto gemacht wurde, war die Sache mit Vincent noch nicht passiert.
Wegen dieses Plakats wusste ich, dass sie meine Wohnung durchwühlt hatten, denn das Foto hatte einmal mir gehört. Sie mussten es gefunden haben, zwischen den anderen Sachen, die ich ebenfalls liegengelassen hatte, als wir so überstürzt weg mussten.
Ich nahm die Hauptallee und bog dann in einen der weniger betretenen Nebenwege ein. An einer Gruppe Grauerlen schaute ich aufmerksam nach links und rechts, schob die herunterhängenden Zweige zur Seite und schlüpfte in die Öffnung. Hinter mir schlossen sich die Zweige wieder, und ich befand mich auf einem der alten Parkpfade.
Der Pfad wurde nicht mehr benutzt, zumindest nicht von den Oberstädtern. Die Büsche links und rechts wucherten vor sich hin – eine kraftstrotzende, dunkelgrüne Verwahrlosung. Den Gärtnern schien die Existenz dieses Pfads entgangen zu sein. Dabei war er provozierend sichtbar.
Wenn man von oben schaute, sah der Park adrett und fügsam aus – sein Angebot an Baumgrüppchen, Springbrunnen und kleinen Grotten war in einer das Auge erfreuenden Weise arrangiert –, dennoch wirkte er seltsam blass, geradezu anämisch. Abgesehen von diesem Pfad, eine fast unanständig pralle Ader, die sich durch die aufgeräumte und gestutzte Artigkeit der gesamten Anlage schlängelte. Diese vegetative Hemmungslosigkeit, dieser Lebenswille, der durch nichts gebändigt wurde – jeder Blinde, hatte ich vom zehnten Stock des Hotels aus gedacht, musste das sehen.
Vielleicht aber war dieser Pfad beim Übertragen des alten Parkgrundrisses in einen neuen vom Zeichner einfach vergessen worden. Und was nicht in einem Plan verzeichnet war, wurde auch nicht gesehen, egal wie sehr es in die Augen wucherte.
Zweige krochen über meine Arme, tasteten nach meinem Haar, alles strömte den scharfen Waldgeruch von Wachstum und Zerfall aus, das gefiel mir. Mir gefiel auch das Knacken alter Eicheln unter meinen Füßen. Ich erreichte die Brücke, die über den Fluss führte, der die zwei Teile der Stadt voneinander trennte. Am Ende der Brücke befand sich ein Eisentor, auf dessen Zacken Bierdosen gespießt waren. Ich schob das Tor hinter mir zu und war in der Unterstadt angekommen.
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Seit anderthalb Jahren waren Polly und ich unterwegs. Seit der Sache mit Vincent. Von einer Stadt in die nächste, wir wechselten die Koordinaten wie andere Leute ihre Kleidung, und jedes Mal zogen wir uns tiefer zurück.
Die Unterstadt war ein Labyrinth aus Straßen, die wie Laufmaschen irgendwo anfingen, dünner wurden und zerfaserten. Halbfertige Gebäude hier und da, ausgehobene Fundamente und herumliegende Steinhaufen zeugten von engagierten Bauvorhaben, die jedoch mitten im Prozess abgebrochen worden waren. Als hätten die Architekten dieses Teils der Stadt erst nach Baubeginn bemerkt, dass sie den Plan falsch herum hielten, dass es der Plan einer ganz anderen Stadt oder überhaupt kein Plan war. Sondern die von verwirrend feinen Linien durchzogene, stark vergrößerte Fotografie einer Handfläche vielleicht.
So hatte Polly mir die Unterstadt erklärt.
Polly hatte die Wohnung für uns aufgespürt. Wie jedes Mal. Sie schien Antennen für Signale aus gerade jenen Gegenden zu besitzen, die kein Tourist je zu Gesicht bekam. Gegenden, die die Stadtverwaltung am liebsten vergessen wollte. Die Wohnung lag im Dachgeschoss eines fünfstöckigen Mietshauses in der Rolandsgasse.
Busse oder Straßenbahnen fuhren nicht hierher. Nichts fuhr bis zur Rolandsgasse. Und selbst wenn es Öffentliche gegeben hätte – ich wäre trotzdem jeden Tag zu
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