Schattengott
Radiohead in
den Feierabend. Die weichen Töne der Abendsonne und der atmosphärische Song
brachten das Schamsertal zum Klingen. Sabina liebte es, in den Bergen zu
wohnen. Hier, in der Heimat ihrer Mutter.
2
Als sie am nächsten Morgen aufs Polizeikommando kam, war Malfazi
zu ihrer Überraschung bereits in einer Besprechung. Es ging um die
Kompetenzverteilung bei schweren Verbrechen. Um kurz nach halb neun kam er in
ihr gemeinsames Büro.
«Hoi, Sabina», sagte er und pfefferte einen Ordner auf seinen
Schreibtisch.
«Hoi, Claudio», sagte sie und blickte dem rutschenden Ordner nach,
der neben dem Bildschirm einen Ständer mit Stiften abräumte. «War wohl nicht
wunschgemäss, die Besprechung?»
Malfazi bückte sich und klaubte die Stifte vom Boden auf. «Sie
überlegen, ob sie noch konsequenter die Regionalposten unseren Job machen
lassen. Ich frag mich ehrlich, was ich dann noch hier soll.»
Sabina verstand seinen Ärger. Sie war aus Zürich zum Bündner
Spezialdienst gewechselt, um mehr Verantwortung in schweren Kriminalfällen zu
übernehmen. Sollten die Kompetenzen des Diensts jetzt beschnitten werden, würde
sie sich um eine andere Stelle bewerben. Morde und Entführungen waren
psychologisch viel facettenreicher als kleinere Kriminalfälle – auch wenn
in Graubünden wenige solcher Kapitalverbrechen geschahen. Sie gab sich
kämpferisch.
«Wir werden die Damen und Herren da oben schon überzeugen, dass
Spezialisten wie wir die besten Ermittler sind. Die sollen uns nur mal einen
komplizierten Fall geben.»
Malfazi betrachtete sie mit einem Blick, als würde er in ihr zum
ersten Mal nicht nur eine hübsche, aufstrebende Konkurrentin sehen, sondern
auch eine Mitarbeiterin, mit der er gemeinsam erfolgreich sein konnte.
«Willst du einen Kaffee?», fragte er.
«Einen Latte macchiato, bitte.»
Er kam mit zwei Gläsern zurück.
«Diese Kaffeemaschine macht mich noch wahnsinnig. Brrrr. Brrrr. Eine
Tortur ist das.»
«Ja, das ist wirklich ein Monster», sagte Sabina, «aber der Kaffee
schmeckt besser als in Zürich. Danke!»
«Bitte», hörte sie ihn in nie gekannter Freundlichkeit sagen.
Ihre Zweifel, ob sie mit ihm klarkommen würde, wichen erstmals einer
zaghaften Zuversicht.
Um kurz vor zehn rief eine Frau auf dem Polizeikommando an, die
behauptete, sie habe das vermisste Mädchen gesehen. Im Bus zum San Bernardino
sei sie gesessen, am Freitag gegen vier. Die Anruferin wurde zu Sabina
durchgestellt.
«Sind Sie sicher, dass es die junge Frau aus der Zeitung war, Frau
Zügli?»
«Ja. Die Katharina. Ich kenn die doch.»
«Wissen Sie, wo sie ausgestiegen ist?»
«Nein, als ich raus bin, war sie noch im Bus.»
«Wo sind Sie denn ausgestiegen?»
«An der Viamala. Mein Mann richtet den Kiosk für den Sommer her.»
«Danke, Frau Zügli. Das wird uns auf jeden Fall helfen.»
«Ja, was ist denn nun mit dem Mädchen?»
«Das wissen wir nicht, aber Sie haben uns wirklich sehr geholfen.
Merci vielmals.»
Malfazi kam von der Toilette zurück und zündete sich eine Zigarette
an. Er hatte sich selbst eine Sondergenehmigung für das Rauchen im Büro
erteilt.
«Das war eine Frau Zügli aus Andeer», sagte Sabina und holte sich
einen Apfel aus ihrer Tasche. Sie hatte erst vor ein paar Monaten das Rauchen
aufgegeben. Es war ein harter Kampf gewesen, und ihr lag wenig daran,
rückfällig zu werden. «Sie will Katharina Jakobs am Freitag gegen vier gesehen
haben. Im Bus Richtung San Bernardino.»
«Haben nicht alle Fahrer gesagt, sie hätten das Mädchen nicht
dabeigehabt?», fragte Malfazi.
«Doch, aber die müssen ja nicht die Wahrheit gesagt haben. Oder
einer hat sie schlicht übersehen.»
Sabina kramte den Zettel hervor, auf dem die Namen, Routen und
Abfahrtszeiten der Busfahrer standen. Als sie die Route von Thusis zum San
Bernardino über Andeer und Splügen durchcheckte, stutzte sie. Linie 541,
um fünfzehn Uhr fünfundvierzig ab Thusis. Fahrer: Gustav Höhli.
«Hier.» Sie präsentierte Malfazi den Zettel. «Den Bus, der um
fünfzehn Uhr fünfundvierzig Richtung San Bernardino abfuhr, hat ein gewisser
Gustav Höhli gefahren. Der war letztes Jahr vor Gericht angeklagt. Rate mal,
weswegen?»
«Keine Ahnung.»
«Wegen Vergewaltigung seiner Frau.»
Malfazi schnellte aus seinem Stuhl hoch und tippte gegen seine
Pistole. «Hast du das gecheckt?»
«Ja, Freispruch aus Mangel an Beweisen.»
«Und wo wohnt der Gute?», fragte Malfazi.
«Moment», sagte sie und flog über die Tastatur, «in
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