Schattenherz
erzählen.«
»Das ist ja wohl das Allerletzte!«
Die Frau bekräftigte ihre Empörung mit einem anhaltenden Hustenanfall.
»Okay«, keuchte sie, als sie wieder zu Atem gekommen war, »die Mutter sitzt im Gefängnis. Aber immer noch besser âne lebendige Mutter im Knast als eine, von der man glaubt, sie wär tot!«
»Ja, schon. Aber Dr. Spengler sagt, die Tochter soll davon nichts erfahren, weil sonst ihr Genesungsprozess gefährdet ist.«
»Na, der muss es ja wissen â¦Â« Die Stimme der älteren Frau klang skeptisch.
»Wie heiÃt die Kleine noch mal?«
»Malin.«
»Malin. Toller Nameâ¦Â«
»Malin Kowalski.«
Malin griff nach der Türklinke. Sie wollte schreien, rufen, irgendwie auf sich aufmerksam machen â »Hallo?! Was redet ihr da? Ihr sprecht von mir!!!« â, aber sie brachte keinen Ton heraus.
»Du, ich muss jetzt wieder rüber ins Sekretariat, okay?«
»Alles klar! Sag mal, denkst du daran, dass wir heute Nachmittag �«
Der Rest der Unterhaltung drauÃen ging in einem diffusen Rauschen unter. Malin wurde schwarz vor Augen. Sie merkte, wie ihre Knie weich wurden und sie zu Boden sackte. Ihr Hinterkopf schlug hart auf den Steinfliesen auf. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Als sie wach wurde, lag sie in einem der Krankenzimmer. In ihrer Vene steckte eine Kanüle und aus dem Beutel, der neben dem Bett hing, tropfte in regelmäÃigen Abständen eine klare Flüssigkeit in den Zuleitungsschlauch.
»Wo bin ich?«, fragte sie benommen.
»Gehirnerschütterung.«
Das war Anatols Stimme.
»Ey, Anatol, das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Krankenstation.«
»Klar. Aber wo?«
»Immer noch in Dr. Spenglers fröhlichem Irrenhaus.«
Unwillkürlich musste Malin grinsen. Die Reaktionszeiten zwischen Frage und Antwort waren für Anatols Verhältnisse extrem kurz. Sie war froh, dass er es war, der neben ihrem Bett saÃ, und nicht der hungergebeutelte Pfleger. Der dünnlippige junge Mann war das Letzte, an das sie sich erinnern konnte.
»Was ist passiert?«
»Welche Version willst du hören? Meine oder die offizielle?«
»Beide.«
»Okay. Offiziell heiÃt es, das Ganze sei â wie nennen die das hier? â ein weiterer Versuch der Selbstverletzung gewesen. Du hättest dich â kaum fünf Minuten in der Offenen â mit voller Absicht rückwärts auf den Fliesenboden fallen lassen.«
»Was? Ich bin doch nicht bescheuert!«
»Na ja, wir sind hier schlieÃlich in der Klapse â¦Â«
Malin kicherte. Neuerdings entwickelte Anatol ja tatsächlich so was wie Humor. »Und was ist deine Version?«
»Ich glaub nicht, dass du dir selbst wehtun wolltest. Aber du warst ganz allein im Zimmer, als das passiert ist; es kann dich also niemand geschubst haben. Und ausgerutscht oder gestolpert bist du auch nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil ich dich gefunden hab. Ich hatte dir â zum Einzug sozusagen â was aus dem Garten mitgebracht.« Er deutete auf eine voll erblühte, pink-lachsfarbene Rose auf dem Nachttisch. »Eine Austin-Züchtung von neunzehnhundertzweiundachtzig. Sie heiÃt Leanderâ¦Â«
»Mit Vor- oder Nachnamen?«
Anatol grinste. »⦠nach dem Typ aus der griechischen Sage.«
Malin zuckte die Achseln. »Kenn ich nicht.«
»Also, eine gewisse Hero war Priesterin in ânem Aphroditetempel. Und ihr Lover war dieser Leander. Und der ist jeden Abend durch den Hellespont geschwommen, um mit ihr zusammen zu sein.«
»Durch den was?«
»Den Hellespont. HeiÃt heute Dardanellen. Meerenge zwischen Europa und Asien. Jedenfalls hat diese Hero nachts immer âne Lampe in ihr Fenster gestellt, als Seezeichen sozusagen. Damit ihr Geliebter den Weg zu ihr fand.«
»Echt romantisch!«
»Ja. Nur eines Nachts hat ân Sturm die Lampe ausgepustet und Leander hat die Orientierung verloren und ist ertrunken. Und als seine Hero am nächsten Morgen seine Leiche am Strand entdeckt hat, hat sie sich von âner Klippe runter in den Tod gestürzt.«
Selbstmord aus Liebeskummer? Keine gute Nummer.
»ScheiÃe. Echt dumm gelaufen. Aber die Rose ist schön. Danke.«
Ob er mir mit dieser Leandergeschichte was sagen will? Von wegen suizidgefährdet und so?
Bevor Malin weiter darüber nachgrübeln konnte, nahm Anatol
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