Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
1
Als Unterholz bezeichnet man in der Forstwirtschaft den Bewuchs unterhalb der Baumkronen, der aus Sträuchern oder kleinen Bäumen besteht.
Der dünne Stahldraht um seinen Hals zog sich ruckartig zusammen. Jennerwein schrie auf vor Schmerzen. Er hatte versucht, den Kopf zu heben, dabei war der empfindliche Ruhezustand der straff gespannten Drähte, mit denen er fixiert war, aus dem Gleichgewicht geraten. Der Druck auf seine Kehle nahm zu. Jennerwein würgte und hustete. Nur mit großer Mühe konnte er Luft holen, denn jede noch so kleine Bewegung steigerte seine Schmerzen ins Unerträgliche. Er lag auf dem Bauch. Direkt vor seinen Augen konnte er moosigen Waldboden erkennen, der mit Wurzelwerk durchsetzt war. Der Boden war leicht abschüssig. Die Erde roch scharf und unverschämt wohltuend nach Bergwald und Pilzen. Die Erinnerung kam langsam zurück. Er war angegriffen worden. Für einen Sekundenbruchteil war er nicht bei der Sache gewesen. Und alles um ihn herum war schwarz geworden.
Kommissar Jennerwein konzentrierte sich. Er versuchte sich ein Bild von seiner momentanen Lage zu machen. Eine Drahtschlinge riss an seinem Hals, eine weitere Schlinge schnitt in seine Handgelenke, die hinter dem Rücken gefesselt waren. Zwei weitere solche Befestigungen spürte er an den Fußgelenken. Seine Beine und sein Kopf wurden nach oben gezogen, vermutlich lag er unter einem Baum, und alle vier Drähte waren hoch über seinem Rücken an einem Ast zusammengebunden. Wenn er ein Körperteil bewegte, um sich etwas Linderung zu verschaffen, spürte er die Einschnitte an den anderen Stellen umso schmerzhafter. Vermutlich liefen die Drähte dort oben durch eine Rolle, die leise knarzend im Wind schaukelte. Es klang so, und es fühlte sich so an. Wie war er bloß in diese Situation geraten? Schon wieder hatte er eine unbedachte Bewegung gemacht. Die Schmerzen fraßen sich fest wie wütende Hunde. Er begriff langsam, dass ein Entkommen unmöglich war. Diese Konstruktion war unter dem Namen Die Schweinefessel bekannt. Mitglieder der Fremdenlegion verwendeten sie, um Gefangene ruhigzustellen oder zu foltern.
Jennerwein versuchte, wenigstens den Kopf etwas zur Seite zu drehen, um sich zu orientieren, doch auch bei dieser winzigen Drehung fuhr ihm ein solch scharfer Schmerz durch den Körper, dass er es aufgab. Regungslos hing er im Netz. Auf die berüchtigte Schweinefessel deutete auch der Klavierdraht hin, der ihn gefangen hielt. Ein Stückchen davon hing in sein Gesichtsfeld, vielleicht war das Absicht, wie um ihm zu zeigen, dass er es nicht mit Dilettanten zu tun hatte. Kupferumwickelte Klaviersaiten waren rutsch- und reißfest. Sie hatten an beiden Enden vorgefertigte kleine Schlaufen, mit denen man die Drähte gut und schnell verbinden konnte, ohne komplizierte Knoten knüpfen zu müssen. Eine solche Klaviersaite war zudem leicht zu beschaffen, auf jedem Schrottplatz stand ein alter Klimperkasten, den man ausweiden konnte. Am geeignetsten waren die mittleren Klaviersaiten aus Gussstahldraht, sie waren hauchdünn, trotzdem stabil. Wo oben auf den Elfenbeintasten die Läufe und Arpeggios von Mozart und Beethoven endeten, begannen unter dem Holz die besten Saitenstärken für eine Fesselung. Der Hustenreiz wurde langsam unerträglich. Jennerwein versuchte zu husten, ohne sich zu bewegen. Es war nicht möglich. Wer hatte ihn in diese Lage gebracht? Und wo waren die anderen Mitglieder seines Polizeiteams?
Seine Gedanken gingen ein paar Tage zurück. Wie hatte er sich gefreut, seine Kollegen nach einem halben Jahr Pause wiederzusehen! Er hatte in dieser Zeit nur unspektakuläre Schreibtischfälle zu bearbeiten gehabt. Dann aber hatte er einen überraschenden Anruf aus dem idyllisch gelegenen alpenländischen Kurort erhalten. Polizeiobermeister Ostler war dran.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Chef.«
»Guten Morgen. Was gibts?«
»Eine weibliche Leiche. Todesursache ungeklärt. Nicht natürlich. Ich hole Sie mit dem Jeep ab.«
»Kann ich nicht selbst –«
»Der Tatort ist unzugänglich gelegen, auf sechzehnhundert Meter Höhe.«
Jennerwein hatte gewusst, dass er sie alle bald wieder um sich haben würde, die beiden ortskundigen Polizeiobermeister Johann Ostler und Franz Hölleisen, den knorzigen Allgäuer Ludwig Stengele, die kriminalistisch hochbegabte Nicole Schwattke und vor allem – die Psychologin Maria Schmalfuß. Was für ein angenehm warmes Gefühl war in ihm aufgestiegen, als er gehört hatte, dass sie
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