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Schattenjagd

Schattenjagd

Titel: Schattenjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Vlcek
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überhängenden Felsen.
    Die Häuser waren alle aus dem rötlichen Stein gebaut, aus dem die Steilwände bestanden. Manche von ihnen waren ganz oder teilweise aus dem Fels gehauen. Sie waren von unterschiedlicher Größe, aber alle von einfacher, kubischer Form, übereinander gebaut und ineinander verschachtelt. Dazwischen gab es winkelige Stege und Treppen, und man konnte die meisten der niedrigen, halbkreisförmigen Eingänge nur zu Fuß erreichen.
    Die Stadt fiel terrassenförmig ins Tal herab, wo sich die Bauten um einen freien Platz gruppierten. Der Platz war kreisförmig, und die Rafher strömten von allen Seiten hin und sammelten sich dort.
    Mythor stand auf halber Höhe und hatte einen phantastischen Überblick. Rafher gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Es waren Frauen und Kinder und Männer jeden Alters, und alle hatten sie ihre Gesichter gespalten. Sie stiegen über die Treppen und Rampen ins Tal hinunter, um sich auf dem Versammlungsplatz einzufinden.
    »Komm!« sagte No-Ango, und sie gliederten sich in die Menschenschlange ein. Mythor brauchte nicht zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Er konnte sich denken, dass sich die Rafher alle zu einem gemeinsamen Zeremoniell einfanden, bevor sie zusammen in den Freitod gingen.
    Er verstand es noch immer nicht, und egal welche Begründungen man noch für diese Tat vorbringen würde, er würde sie nie verstehen. Nichts konnte diesen Massenselbstmord rechtfertigen.
    Mythor erreichte mit No-Ango den freien Platz. Die Rafher wichen zur Seite, um ihnen den Weg freizugeben. Er versuchte, in ihren gespaltenen Gesichtern zu lesen, aber er entdeckte nirgends Verbitterung oder gar Angst, nicht einmal eine Spur von Wehmut. Er blickte nur in gefasste, ernste, manchmal auch in glückliche Gesichter.
    Er erreichte die Mitte des Platzes. Hier saßen etwa vierzig Männer im Kreis, deren ausgemergelte, verbrauchte Körper und runzeligen Gesichter von hohem Alter zeugten. Im Mittelpunkt des Kreises saß ein einzelner Mann, dessen linke Gesichtshälfte fast in reinem Weiß erstrahlte. Er hatte nur über dem Auge einen roten Punkt, der in einen gelben Kreis eingeschlossen war. Er winkte Mythor zu sich, und No-Ango gab durch ein Zeichen zu verstehen, dass er der Aufforderung folgen solle.
    Mythor trat in den Kreis und ging zu dem Alten, der kein anderer als Hu-Gona sein konnte, der Älteste der Rafher. Mit einer Handbewegung bedeutete dieser ihm, sich ihm gegenüber auf den Boden zu setzen.
    »Du verstehst den Sinn unseres Tuns nicht, Mythor«, eröffnete der Alte das Gespräch. Er sprach mit leiser, rauer Stimme, und Mythor erkannte, dass sein Mund zahnlos war, die Lippen eingefallen. Wenn es stimmte, dass jede Falte im Gesicht eines Menschen für aus Erfahrung gewonnene Weisheit stand, war Hu-Gona der weiseste und erfahrenste Mann, den er je kennengelernt hatte.
    »Dabei ist alles so einfach«, sagte Hu-Gona wieder. Er machte nach jedem Satz eine Pause, bevor er langsam weitersprach. Mythor wagte nicht, ihn zu unterbrechen. »So einfach… denn Entleibung muss nicht gleichbedeutend mit Tod sein. Es gibt auch eine andere Art des Weiterlebens. No-Ango hat es dir erklärt. Du hättest die Wahrheit erkennen müssen. Wir tun nichts anderes als das, was in Dhuannin geschehen ist, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Wir setzen unsere Seelen frei, um daraus einen Deddeth zu bilden.«
    »Für mich ist das wie eine Flucht«, erwiderte Mythor. »Es mutet wie Feigheit vor dem Leben an.«
    »Du tust uns unrecht, und es schmerzt, dass diese Worte ausgerechnet von dir kommen… dem Sohn des Kometen«, sagte Hu-Gona.
    »Vielleicht bin ich gar nicht der Sohn des Kometen«, hielt Mythor dagegen.
    Hu-Gona winkte ab. »Unser Volk hat lange auf diesen Augenblick gewartet. Seit vielen Menschenaltern warten wir darauf, dass der Lichtbote uns abberuft. Wir sind seine Diener. Wir hielten nach Zeichen Ausschau, mit denen uns der Lichtbote verständigte, dass er unsere Dienste braucht. Wir wussten, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Denn das Böse griff und greift immer rascher um sich. Darum haben wir uns von den Menschen abgesondert und Lo-Nunga zur Verbotenen Stadt erklärt. Wir haben alle Zugänge, bis auf einen, versperrt, alle Straßen verschüttet, die nach Lo-Nunga führten. Und dann haben wir auf ein Zeichen gewartet. Wir wussten schon immer, dass wir eines Tages unsere Körper würden aufgeben müssen, um als Deddeth eine Wiedergeburt zu erleben. Denn nur in dieser Form können wir

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