Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
neuen Kaffee zu kochen.
»Wo bleibt eigentlich Yngvar?«, fragte sie.
»Das wissen die Götter«, antwortete Inger Johanne zerstreut und schob einen Zettel unter eine Zeitung. »Aber unter diesen Umständen kann ich ihm ja nicht gerade Vorwürfe machen. Jetzt haben sie diesen verdammten Terroristen gefasst und vielleicht muss er ... pst!«
Die Mutter füllte Wasser und Filterkaffee in die Maschine und kam leise zurück.
Der frischgebackene Polizeichef musste sich die Uniform in aller Schnelle besorgt haben. Soviel Inger Johanne wusste, hatte er bei Ferienbeginn seinen Posten seit höchstens einer Woche innegehabt. Seine Stimme war dunkler, als Inger Johanne es aus den Neunzigerjahren, als der Mann Politiker gewesen war, in Erinnerung hatte.
Seine Botschaft war noch düsterer.
»Achtzig«, flüsterte die Mutter und schlug die Hände vors Gesicht.
»Achtzig«, wiederholte Inger Johanne mit einem kurzen scharfen Schrei.
Inger Johanne konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt vor den Augen anderer geweint hatte.
Nicht einmal bei der Beerdigung ihres Vaters hatte sie der Trauer um die verlorene Möglichkeit der Versöhnung mit einem Vater nachgegeben, dem sie so lange nur noch milde Verachtung entgegengebracht hatte. Jetzt brachen alle Dämme. Sie beugte sich halb widerwillig, halb suchend zur Mutter vor, und die legte die Arme um sie und wiegte sie vorsichtig hin und her, während sie kleine, sinnlose Trostworte flüsterte.
»Ich weine, weil ...«, flüsterte Inger Johanne, kam aber nicht weiter.
»Ich weiß«, sagte die Mutter leise. »Weine nur.«
Aber die Mutter wusste nicht. Sie ahnte nicht, dass Inger Johanne jetzt, wie gelähmt nach den Ereignissen des vergangenen Tages, eigentlich aus ganz anderen Gründen als wegen der grotesken Verbrechen im Regierungsviertel und auf Utøya die Beherrschung verloren hatte. Die Todeszahlen der Doppelkatastrophe waren noch zu unwirklich. Es war zu spät in der Nacht, zu früh am Morgen, zu viele Schicksale, um alles zu begreifen.
Stattdessen trauerte Inger Johanne nur um einen.
Sie weinte um einen Jungen, den seine Eltern nur acht Jahre hatten am Leben erhalten können. Inger Johanne weinte um Sander, den schweren, munteren, heftigen Jungen, der gerade ein Feuerwehrauto bekommen hatte, mit dem er nicht so lange hatte spielen können, bis es hinüber war.
2
»Inger Johanne, du musst aufstehen.«
Die Stimme kam ihr fern und gedämpft vor. Inger Johanne kämpfte sich aus einem so tiefen Schlaf, dass sie in den ersten Sekunden nicht begriff, wo sie war. Im Zimmer war es dunkel und kühl, und erst als sie den Geruch ihrer eigenen Bettwäsche wahrnahm, erwachte sie.
»Wie spät ist es denn?«, fragte sie gähnend und setzte sich im Bett auf.
»Halb sechs«, antwortete die Mutter aus der Türöffnung. »Wenn du noch länger schläfst, stellst du Tag und Nacht auf den Kopf.«
»Halb sechs? Halb sechs am Abend?«
Sie warf die Decke beiseite. Als sie merkte, dass sie nackt war, wickelte sie sich rasch wieder hinein, aber die Mutter war schon gegangen. Ein widerlicher Kopfschmerz presste hinter ihren Augen, als sich die Ereignisse des Vortages wieder in ihr Bewusstsein schlichen.
»Halb sechs«, wiederholte Inger Johanne leise. »Großer Gott ...«
Sie hatte mehr als neun Stunden geschlafen. Den ganzen Tag. Wenn die Mutter sie nicht geweckt hätte, wäre sie mindestens noch drei Stunden liegen geblieben, merkte sie ihrem schweren, widerwilligen Körper an, als sie sich wieder ins Bett sinken ließ. Sie war in letzter Zeit wirklich erschöpft gewesen. Müde und langsam. Vielleicht brütete sie irgendetwas aus.
Yngvar. Er musste nach Hause gekommen sein.
Die Kinder. Sie mussten angerufen haben.
Jetzt mussten sie doch angerufen haben.
»Yngvar«, rief sie laut, als sie zum zweiten Mal versuchte aufzustehen.
Für einen Moment überlegte sie, ob sie duschen sollte, dann aber fiel ihr ein, dass sie vor dem Schlafengehen lange gebadet hatte. Also nahm sie saubere Unterwäsche aus einer halb offenen Schublade, zog eine Jeans an, die auf dem Boden lag, und schnappte sich dann einen angeschmuddelten Pullover oben aus dem Wäschekorb. Ihr ging auf, dass sie wieder mit dem Training anfangen müsste. In den vergangenen zwei Wochen hatte sie zugenommen, merkte sie. Die Hose war zu eng, und der BH spannte.
»Yngvar?«
»Der ist nicht hier«, rief die Mutter aus der Küche. »Aber er hat angerufen. Er hat dich nicht erreicht und es auf dem Festanschluss probiert. Bei ihm
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